520.000 Austritte – die Kirche schrumpft schon wieder wie nie zuvor
Bei der Kirchenstatistik 2022 gibt es nichts mehr zum Schönreden – Eine Analyse von Felix Neumann
Gibt es Lichtblicke in der düsteren Kirchenstatistik? Ein paar Zahlen sind gestiegen: Taufen, Trauungen, Gottesdienstbesuch. Doch ein Blick in Zahlen, Entwicklungen und Trends zeigt, dass diese Werte bestenfalls Strohfeuer markieren. Die erhoffte Trendumkehr nach der Pandemie bleibt aus.
Die Deutsche Bischofskonferenz kommentiert nicht mehr. Sie verkündet zur Kirchenstatistik nur noch Zahlen, und zwar tiefrote. Anders als in den vergangenen Jahren gab es keine Einordnung vom Vorsitzenden oder der Generalsekretärin zur Präsentation der bundesweiten Kirchenstatistik: Die nüchterne Pressemeldung mit vielen Zahlen musste genügen. Was soll man ehrlicherweise auch noch sagen angesichts dieser Rekorde? Jedes Schönreden kurzfristiger, scheinbar positiver Trends wäre nur noch peinlich. 522.821 Menschen haben 2022 ihren Kirchenaustritt erklärt. Zusammen mit den Sterbefällen, Eintritten und Umzügen ergibt sich damit ein Rückgang der katholischen Kirchenmitglieder um 708.285 Menschen. Einzelne Bischöfe betonen für ihre Diözesen, angesichts des Exodus nicht allgemein in Resignation zu verfallen. Doch das ist schwer: Der jeweils vorige Rekord wird mittlerweile fast jedes Jahr gerissen, nur 2020, im ersten Jahr der Corona-Pandemie, schafften es nicht so viele Menschen zu den Standesämtern: Damals wurde nur der zweithöchste Wert bis zu diesem Zeitpunkt verzeichnet.
Das Corona-Jahr 2020 ist in den Statistiken eine Zäsur: Sakramentenfeiern und katholische Beerdigungen gingen deutlich zurück, der ohnehin schon niedrige Gottesdienstbesuch halbierte sich fast. Im Folgejahr konnte wenigstens der massive Anstieg der Austrittszahlen von 220.000 auf knapp 360.000 mit Steigerungen bei den Sakramenten etwas geschönt werden – doch schon damals war klar, dass der Anstieg von 2020 auf 2021 nicht die Ausfälle von 2020 kompensierte. Die Hoffnung, dass alle coronabedingt nicht möglichen Trauungen, Erstkommunionen und Firmungen nur aufgeschoben werden würden, ging nicht auf.
Auch mit der aktuellen Kirchenstatistik ist die Hoffnung auf den Anstieg trügerisch. Alle kirchlichen Amtshandlungen, Sakramente und Beerdigungen, bleiben hinter 2019 zurück und schreiben den seit Jahren negativen Trend fort; Nachholeffekte der Corona-Jahre bewirken bestenfalls, dass der Abstieg nicht ganz so stark ausfällt. Insbesondere scheint auch bei den Katholiken, die noch regelmäßig den Gottesdienst mitfeiern, keine wirkliche Wende in Sicht: Mit 5,7 Prozent Gottesdienstbesuchern stieg die Zahl zwar erstmals seit gut zehn Jahren wieder. Das bleibt aber immer noch selbst hinter dem Corona-Jahr 2020 zurück, wo trotz massiv eingeschränkter Möglichkeiten, überhaupt Gottesdienste in Präsenz zu feiern, noch 5,9 Prozent verzeichnet wurden.
Die Zahl der Firmungen zeigt die Zukunft
In den Zahlen zu den Sakramenten ist die der Firmungen der große Ausreißer: Von knapp 126.000 im Vorjahr sanken sie auf knapp 111.000. Bei Taufen – die sind gestiegen – entscheiden in den allermeisten Fällen die Eltern. Bei den Firmungen entscheiden die Jugendlichen mit. Der Rückgang vor allem bei den Jugendlichen deckt sich mit den Ergebnissen des Bertelsmann-Religionsmonitors, der im vergangenen Dezember in einer Kompaktfassung veröffentlicht wurde. Demnach tragen sich 20 Prozent der Christen – katholisch wie evangelisch – mit einer festen Kirchenaustrittsabsicht. Bei den 16- bis 24-Jährigen sind es 41 Prozent. Auch wenn der Schwerpunkt bei den Kirchenaustritten etwas später einsetzt, nämlich dann, wenn auf dem ersten Gehaltszettel die Kirchensteuer auftaucht, ist die Entscheidung gegen die Firmung ein Vorbote dessen, was einige Jahre später wohl folgen wird.
Konstanz gibt es vor allem bei der Zahl der Beerdigungen: Seit über zehn Jahren pendeln sie zwischen 240.000 und 250.000 pro Jahr. Angesichts einer durch Austritte und weniger werdenden Taufen schrumpfenden Kirche bei gleichzeitig stark alternder Gesellschaft bedeutet eine Konstanz der absoluten Zahlen aber eine deutliche relative Steigerung im Verhältnis zu den verbleibenden Kirchenmitgliedern.
Regional schreibt sich ein Trend der vergangenen Jahre fort: Es ist nicht so, dass Skandale vor allem lokal wirken. Sie treffen alle. Das Erzbistum Köln steht mit 51.000 Austritten zwar in absoluten Zahlen wie im Vorjahr an der Spitze. Relativ belegt es aber nur den vierten Platz hinter Hamburg, Berlin sowie München und Freising. Besonders viele Austritte gibt es nicht notwendig an den Orten, wo die größten Skandale geschehen, sondern vor allem in den Bistümern mit besonders großen Städten, während Bistümer mit stärker ländlicher Struktur, mit starken Resten volkskirchlicher Struktur oder einem stark verbundenen Diaspora-Milieu relativ am wenigsten Kirchenaustritte haben. Doch selbst in Görlitz und Erfurt, den positiven Spitzenreitern, steigen die Zahlen deutlich. Die Austrittsquote, also die Zahl der Austritte 2022 im Verhältnis zur Mitgliederzahl 2021, hat in Görlitz mit 1,42 Prozent erstmals die Prozentmarke übersprungen, in Erfurt liegt sie bei 1,72 Prozent. Insgesamt ist die Austrittsquote für die Kirche in Deutschland auf 2,42 Prozent gestiegen. Auf einzelne Bistümer bezogen fällt auf, dass die Austritte in bislang sehr volkskirchlichen Regionen besonders stark gestiegen sind: in Regensburg um 70 Prozent, in Eichstätt um 69 Prozent, in Görlitz um 66 Prozent, in Paderborn um 65 Prozent, in Passau um 64 Prozent. Im Schnitt sind die Austritte deutschlandweit um 45,5 Prozent gestiegen.
Dass Skandale für die ganze Kirche und nicht nur regional wirken, legen Vergleiche der Bistümer mit großen und vielbeachteten Missbrauchsstudien zumindest nahe: Bistümer liegen nicht notwendig an der Spitze der Austritte, wenn dort Gutachten vorgestellt wurden. München und Freising, wo das Gutachten im Januar 2022 vorgestellt wurde, liegt mit einer Austrittsquote von 3,14 Prozent in der Spitzengruppe, während das in weiten Teilen noch volkskirchlich geprägte Münster mit 2,15 Prozent auf Platz sechs der Bistümer mit den wenigsten prozentualen Austritten liegt. Aber auch umgekehrt: Während die Austritte im Erzbistum München und Freising um 38,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr angestiegen sind, beträgt die Steigerung in Münster 67,6 Prozent. Eingeschränkt werden solche Interpretationen allerdings durch den Zeitpunkt: Erst im Juni wurde die Studie in Münster veröffentlicht, sie konnte also ein halbes Jahr weniger wirken als die für München. Die Trends, dass sich Variationen besser durch die Struktur von Sozialräumen als durch Verdienste und Versäumnisse einzelner Bistümer erklären lässt, sind aber seit Jahren konstant – abgemildert werden sie bestenfalls dadurch, dass nun auch die volkskirchlichen Reservoire stärker austrocknen: Die Austrittszahlen steigen überall wie ein Grundwasserspiegel, geprägt von global wirkenden Skandalen und Enthüllungen, die Variationen bestimmen Großstädte und Volkskirchlichkeit. Alle Bistümer, so unterschiedlich sie sind, so kontrovers ihre Bischöfe miteinander umgehen, sind in einer Haftungsgemeinschaft.
Die katholische Kirche schrumpft schneller als die evangelische
Und noch ein weiterer Trend setzt sich fort: der ökumenische Vergleich. In der Relation zu den Mitgliederzahlen der evangelischen Landeskirchen ist es zu einer Trendumkehr gekommen. Schrumpfte lange die evangelische Kirche schneller als die katholische, ist es mittlerweile umgekehrt. Den 520.000 katholischen Kirchenaustritten stehen 380.000 evangelische gegenüber – „nur“ lässt sich kaum sagen, stellt dieser Wert doch auch für die Landeskirchen einen neuen Rekord dar. Ein Trost kann die Umkehr der Verhältnisse für evangelische Christen nicht sein: Wer langsamer ausblutet, ist am Ende genauso tot.
Wohl aber deutet sich so eine Verschiebung der konfessionellen Verhältnisse in Deutschland an, die lange und bis heute von einem leichten Überhang der Katholiken geprägt war. Ob das angesichts einer immer geringer werdenden Bedeutung und Prägekraft der Konfessionen überhaupt eine Rolle über die Zahlenverhältnisse hinaus spielt, ist ungewiss. Der Bertelsmann-Religionsmonitor verheißt, dass sich diese Entwicklung deutlich fortschreiben wird. Den Zahlen von Ende 2022 zufolge sind unter den Kirchenmitgliedern, die einen Austritt erwägen, Katholiken mit zwei Dritteln deutlich überproportional vertreten. Bei den Menschen mit fester Austrittsabsicht sind 57 Prozent Katholiken. „Das lässt vermuten, dass insbesondere die Vertrauenskrise in der Katholischen Kirche, hervorgerufen durch Missbrauchsskandale und fehlende Reformbereitschaft der römischen Kurie, einen Einfluss auf die Austrittsabsicht hat“, heißt es im „Religionsmonitor kompakt“.
Diese Vermutung unterlegt der Religionsmonitor auch mit Zahlen: 81 Prozent der Mitglieder mit Austrittsabsicht hätten angegeben, dass sie das Vertrauen in religiöse Institutionen aufgrund der vielen Skandale verloren hätten. 92 Prozent der Austrittsgeneigten stimmten der These zu, dass man auch ohne Kirche Christ sein könne. Bei den Mitgliedern ohne Austrittsabsicht waren es immerhin noch 84 Prozent – selbst bei denjenigen, die wohl noch länger Kirchenmitglied bleiben, sinkt die Relevanz der Kirche als Institution.
Für die nächste Kirchenstatistik ist also keine Besserung zu erwarten, ohne dass ein Plateau in Sicht wäre, eine geschrumpfte Größe, auf die sich die Kirche heute schon einstellen könnte. 2023 wurden die verheerenden Missbrauchsgutachten für Mainz und Freiburg veröffentlicht, Köln ist weiter in den Schlagzeilen, und diejenigen, die überhaupt noch innerkirchliche Vorgänge wahrnehmen, dürften von den Querelen um den Synodalen Ausschuss nicht zu höherer Kirchenbindung beflügelt werden. Die Kernschmelze, die auch vor einst Engagierten und Hochverbundenen nicht halt macht, droht sich zu einer sich selbst verstärkenden Spirale zu verfestigen – wenn es nicht schon so weit ist.
Felix Neumann
Quelle: www.katholisch.de, In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Felix Neumann, Quelle: www.katholisch.deIn: Pfarrbriefservice.de