Auslegungssache: der Koran und die Bibel

Christentum und Islam im Vergleich (27)

Juden, Christen und die Muslime geben der Bibel bzw. dem Koran göttliche Autorität. Um den Sinn eines Textes zu verstehen, gehen sie unterschiedlich vor.

Die im Koran niedergelegten Regelungen und Gebote gelten für das konkrete Leben. Mohammed hat die Praxis betont. Der Koran ist weniger ein Buch, das beschreibt, so wie die jüdische Bibel mit ihren erzählenden Teilen. In der Bibel geht es darum, Gottes Handeln zu verstehen, im Koran dagegen, die Anweisungen Gottes zur Richtschnur des Handelns zu machen.

Koran: Regelungen für das konkrete Leben

Die Denkwerkzeuge der Rechtsgelehrten im Islam sind dafür sehr viel besser geeignet als die Methoden der Interpretation, die für die Auslegung der Bibel genutzt werden. Bei den Sunniten, denen etwa 85 Prozent der Muslime angehören, gibt es vier Rechtsschulen, die nach ihren Gründern benannt werden. Sunna heißt, der Rechtsauslegung des Korans und den frühen Texten des Islam, den Haditen, zu folgen, also diese möglichst genau anzuwenden. Die vier Rechtsschulen sind:

  1. Die Hanbaliten: Sie sind die strikteste der Schulen, die auf wörtlicher Auslegung bestehen. Die Wahhabiten in Saudi Arabien haben sie an die Salafisten weitergegeben.
  2. Die Hanafiten gelten als liberal, ihre Rechtsgelehrten beziehen die regionalen Verhältnisse in ihre Urteilsbildung ein. Sie bestimmen das Koranverständnis in der Türkei, in Zentral-Asien, in Pakistan, Nord-Ägypten und Indien.
  3. Die Malikiten folgen der Rechtspraxis, die in Medina überliefert wurde. Sie wurden für Ägypten, Nordafrika und Andalusien prägend und werden heute vom König von Marokko unterstützt.
  4. Die Schafiiten sind in Asien, hier in Indonesien, Malaysia und Südindien bestimmend. Sie geben der Rechtsfindung des einzelnen Gelehrten wenig Raum und orientieren sich an der Tradition.

Judentum: Auslegung „nach vorne“

Die Juden legen die Texte ihrer Bibel „nach vorne“ aus; sie fragen also, was sie heute und für die Zukunft bedeuten. Sie sagen, dass ein Text erst dann erschöpfend interpretiert ist, wenn 70 Deutungen gefunden sind. Diese Auslegung „nach vorne“ war für die Christen bis zum Ende des Mittelalters maßgebend. Da Gott den Text inspiriert hat, steckt mehr in einem Kapitel, als der menschliche Autor es beim Schreiben ausdrücken konnte, so die Auffassung.  

Jesus praktizierte Auslegung „nach vorne“

Jesus wie dann auch Paulus haben die Auslegung „nach vorne“ praktiziert. Als man Jesus in einer Synagoge den gerade zum Vorlesen aufgeschlagenen Text zur Interpretation gab, sagte er: „Heute hat sich das Schriftwort erfüllt.“ Es ging um eine Stelle bei Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze.“

Christentum: Wissenschaftlicher Anspruch

Von dieser Schriftauslegung „nach vorne“ erfahren die Gottesdienstbesucher allerdings heute kaum etwas. Denn der Anspruch, einen Bibeltext „wissenschaftlich“ auszulegen, führt eher zu der Praxis des Islam als zu der des Neuen Testaments. Denn das Neue Testament hat nicht nur Handlungsanweisungen aus der Bibel der Juden herausgelesen, sondern nach den Texten gesucht, die auf Jesus hinweisen. So fand man in den Gottesknechtsliedern des Jesajabuches, vor allem im 4. Lied eine Deutung des Kreuzestodes Jesu: „Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53,5)

Dr. Eckhard Bieger und Vladimir Pachkov, In: Pfarrbriefservice.de

Die beiden Jesuiten Dr. Eckhard Bieger, Frankfurt, und Vladimir Pachkov, Moskau, beleuchten in einer mehrteiligen Reihe auf Pfarrbriefservice.de Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Christentum und im Islam. Sie wollen damit das Gespräch zwischen Christen und Muslimen fördern.

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Text: Dr. Eckhard Bieger und Vladimir Pachkov
In: Pfarrbriefservice.de