Dankbarkeit als Lebenshaltung

Was die Besuche bei einer alten Dame lehrten

Die alte Dame ist schon vor vielen Jahren gestorben, doch ab und zu denke ich an sie. Am Beginn meines Berufslebens, als junger Seelsorger in einer Kirchengemeinde, habe ich sie kennengelernt, habe sie hin und wieder besucht, ihren Geschichten zugehört, mit ihr gescherzt und auch gebetet. Ganz einfach war ihr Leben nicht, so wie bei vielen Menschen ihrer Generation, die die großen Katastrophen des letzten Jahrhunderts – Krieg, Not, Vertreibung – selbst miterlebt haben.

Im hohen Alter machte ihr nun auch die Gesundheit mehr und mehr zu schaffen. Alles in allem also nichts allzu Ungewöhnliches. Doch an diese alte Dame erinnere ich mich deshalb, weil sie bei unseren Begegnungen immer etwas ausgestrahlt hat, das mir eher selten begegnet ist. Eine tiefe, innere Zufriedenheit.

Keine Verbitterung. Kein Schimpfen über andere. Wie oft habe ich auch das bei Hausbesuchen gehört. Klagen über ein schlimmes Schicksal, das einen Menschen unvermittelt trifft. Über Krankheiten, körperliche Einschränkungen, verpasste Chancen. Über empfundenes Unrecht oder die Undankbarkeit von Angehörigen und Weggefährten. Viel Verbitterung und oft auch Traurigkeit waren da zu spüren.

Versöhnt mit den Zumutungen des Lebens?

Manches davon konnte ich gut verstehen. Aber all das macht ein Leben mit der Zeit eben auch hart und bitter. Und mehr als einmal habe ich mich damals gefragt, ob dieses Bittere und Harte wohl wieder sanft werden kann. Ob so etwas wie eine Versöhnung mit den Zumutungen des Lebens möglich ist. Entweder hatte diese alte Dame das geschafft. Oder aber, sie hatte die Zumutungen, die sie selbst erfahren hat, nie als persönliche Kränkung empfunden.

Erst später ist mir bewusst geworden, dass ein Wort bei ihr recht oft vorgekommen ist: Dankbar! Dankbar für jeden glücklichen Moment. Dankbar für jeden Menschen, der mir begegnet und mir etwas Gutes tut.

Trotz allem dankbar sein?

Ich weiß, das sagt sich leicht dahin, wenn es rund läuft im Leben und das Schicksal es gut mit mir meint. Wenn ich von Krankheiten und Unfällen weitgehend verschont bleibe. Wenn ich eine liebevolle Familie habe, Freunde und Kollegen, mit denen ich mich gut verstehe. Einen Job, der mich erfüllt und der mir Spaß macht.

Doch was, wenn das nicht so ist? Wenn ich nicht auf der Speckseite des Lebens aufgewachsen bin. Wenn mich eine Krankheit aus der Bahn geworfen hat, die Familie zerbrochen ist, ich den Halt verloren habe. Dankbar sein? Für was denn und wen?

Die alte Dame vom Beginn meines Berufslebens hat ihre Dankbarkeit wohl vor allem aus ihrem Glauben gewonnen. Gott war für sie nicht einer, der ihr ein Unglück schickt oder es zumindest nicht verhindert. Vielmehr ein Gott, der immer für sie da war, egal, was auch passiert ist. Dem sie für jeden glücklichen Moment ihres Lebens dankbar war. Den sie in allen verstörenden und dunklen Phasen aber trotzdem an ihrer Seite wusste.

Dankbarkeit einüben

Dankbarkeit ist nichts, was ich irgendwem schuldig bin. Es ist eine Lebenshaltung, das habe ich damals gelernt. Ich kann versuchen, sie einzuüben. In jedem glücklichen Moment, den ich erleben darf. Bei jedem liebevollen Wort, das mir jemand sagt, in jeder Begegnung, die mich froh macht. Ein Mensch, der das Glück hat, dankbar leben zu können, der wird sanft. Und vielleicht ist das ja ein Schlüssel zur Zufriedenheit.

Martin Wolf
Katholische Hörfunkarbeit für Deutschlandradio, www.katholische-hörfunkarbeit.de. In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Martin Wolf, Katholische Hörfunkarbeit für Deutschlandradio, www.katholische-hörfunkarbeit.de
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