„Das Abendland verteidigen wir nicht, wenn wir die Schotten dicht machen“
Kardinal Woelki fordert im Interview eine herzliche Willkommenskultur für Flüchtlinge
Die Not der Flüchtlinge in Europa oder auf ihrem Weg dorthin hat die katholische Kirche in Deutschland in den letzten Jahren zu einem großen Engagement in der konkreten Flüchtlingshilfe bewegt, aber auch zur Teilnahme an der gesellschaftlichen und politischen Diskussion zum menschlichen Umgang mit Flüchtlingen. Im Interview äußert sich Rainer Maria Kardinal Woelki zu seiner Vorstellung von aktiver Flüchtlingshilfe, internationalen Lösungsansätzen und zum Kirchenasyl. Kardinal Woelki ist Erzbischof von Köln und Vorsitzender der Kommission für caritative Fragen der Deutschen Bischofskonferenz.
Herr Kardinal, was empfinden Sie bei Berichten über Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer, aber auch über Ausgrenzungen und Anfeindungen gegenüber Flüchtlingen hier in Deutschland?
Kardinal Woelki: Das macht mich zornig und traurig zugleich. Zornig, weil wir Europäer im Mittelmeer durch die Unentschlossenheit und die unterlassene Hilfeleistung eine Mitverantwortung am Tod so vieler Menschen haben. Und es macht mich traurig, dass wir es in unserer Gesellschaft, die in der eigenen jüngeren Vergangenheit mit Flucht und Vertreibung konfrontiert war, gerade vor diesem Hintergrund nicht überall schaffen, eine freundliche und herzliche Willkommenskultur für Flüchtlinge zu gestalten. An manchen Orten besteht eine sonderliche Vorstellung von den Werten des Abendlandes. Aber das Abendland verteidigen wir nicht, wenn wir die Schotten dicht machen. Gerecht werden wir diesem christlichen Abendland, wenn wir Tränen trocknen, wenn wir Gefangene besuchen, Armut wirksam bekämpfen, Wohnungslosen Obdach geben, Flüchtlingen eine menschenwürdige Unterkunft und Nachbarschaftlichkeit zukommen lassen.
Welchen Auftrag sehen Sie dabei für die katholische Kirche?
Kardinal Woelki: Wir müssen jetzt handeln! Als erstes muss sichergestellt werden, dass keine weiteren Menschen auf ihrer Flucht durch das Mittelmeer zu Tode kommen. Wir müssen diese Leben retten, die direkt vor unserer Haustür Tag für Tag in Gefahr sind. Es ist verlogen, wenn gesagt wird, dass wir die Schlepper bekämpfen müssen, ohne legale Wege nach Europa zu öffnen. Solange es keine legalen Wege gibt, sind die Flüchtlinge auf Schlepper angewiesen. Zweitens müssen wir Christinnen und Christen den Flüchtlingen konkrete Hilfen anbieten. Sei es mit Deutschkursen, Anlauf- und Beratungsstellen, gemeinsamen Festen und Aktionen oder natürlich schon mit freundlichen Worten in der täglichen Begegnung. Als drittes müssen wir die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen. Jetzt gilt es diese Probleme konsequent bei der Wurzel zu packen, damit in den Heimatländern dieser Menschen Krieg, Terror und Hunger verschwinden. Dieses Handeln muss zugleich auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein, damit demokratische Systeme entstehen können und die Perspektivlosigkeit der Menschen in Hoffnung verwandelt wird. Das heißt: Wir müssen langfristig etwas tun, aber auch Soforthilfe leisten. Beides ist wichtig.
Warum ist eine konkrete Hilfe in unserem eigenen Umfeld oft so schwer zu initiieren?
Kardinal Woelki: Ich freue mich, dass es im Umfeld von Flüchtlingsheimen viele spontane Hilfe gibt. Seien es Sprachkurse, das Mitgehen bei Behördengängen oder Nachbarschaftsfeste. Aber die Begegnung braucht auch Zeit auf beiden Seiten: Die Flüchtlinge müssen sich neu orientieren, haben mit Behördenvorschriften zu tun, werden umverteilt, kämpfen mit rechtlichen Fragen, wissen nicht, wie ihr Asylverfahren ausgeht, lernen eine neue Sprache und Kultur. Sie denken an Verwandte in Kriegsgebieten und auf der Flucht. All das schafft viel Unsicherheit.
Wir dürfen lernen mit neuen Nachbarn zu leben und ihr Verhalten zu verstehen. Der Horizont wird durch die Begegnung auf beiden Seiten weiter und unsere Welt wird bunter. Gemeinsam lernen wir, was wirklich wichtig ist.
Kann die katholische Kirche das Flüchtlingsproblem alleine lösen?
Kardinal Woelki: Nein, das kann sie natürlich nicht. Aber es ist ihre Aufgabe, zur Lösung beizutragen und auch darauf zu drängen, dass sich alle Menschen guten Willens an dieser Lösung beteiligen. Seine allererste Reise vor zwei Jahren führte Papst Franziskus nach Lampedusa, um auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer aufmerksam zu machen. Vor dem europäischen Parlament hat er eindrücklich gemahnt, Europa dürfe nicht zulassen, dass das Mittelmeer zum größten Friedhof Europas wird. Geholfen hat es leider wenig. Aber es ist auch an uns Christen, die Forderung nach einer ernsthaften politischen Beteiligung aufrecht zu halten. Und auch konkret zu helfen, da wo es uns möglich ist. Seit Jahrzehnten beispielsweise leisten die Bistümer, die Hilfswerke und Caritas international Hilfe in den armen Ländern unserer gemeinsamen Welt.
Ist das Kirchenasyl ein wirksames Hilfsangebot, das Kirchengemeinden Menschen unterbreiten können?
Kardinal Woelki: Das Kirchenasyl ist eine Ultima Ratio und kann keine generelle Lösung darstellen. Zurzeit befinden sich ungefähr 400 Menschen in Deutschland im Kirchenasyl. Damit stellen sich die Kirchen nicht über das herrschende Recht, sondern machen im Einzelfall auf unzumutbare Härten aufmerksam. Die Kirchenasyle finden grundsätzlich im Kontakt mit den Behörden statt, auch wenn man dadurch behördliche Entscheidungen kritisiert. Es geht immer darum, zu einer gemeinsamen guten Lösung zu kommen. Dafür braucht es die Zeit und den Schutz der Kirchenasyle.
Interview: Jan Pütz, Pfarrbriefservice.de
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Text: Jan PützIn: Pfarrbriefservice.de