Der Rassist

Es passierte auf einer Seniorenstation. Karim betrat das Zimmer im weißen Kittel, das Mittagessen auf dem Tablett. Die alte Dame schreckte auf, fuchtelte wild mit den Armen und brüllte: „Du Rassist! Du wirst mich niemals anfassen. Geh dahin, wo du hergekommen bist. Und nimm alle diese Schmarotzer, diese Penner, gleich mit …!“ Karim blieb ruhig. Er wusste, dass sie auf seine tiefschwarzen Haare reagierte. „Ok“, antwortete er, verließ das Zimmer, atmete durch und hoffte, dass die Patientin im Bett dasselbe tat. Er öffnete die Tür erneut, jedoch war die Wut der Seniorin kein bisschen verflogen. Cool bleiben, dachte sich Karim und ließ sich nicht entmutigen. „Entschuldigen Sie,“ erklärte er freundlich, „aber ich bin für Sie zuständig. Ich kann also nicht einfach verschwinden, denn meine Aufgabe ist es, Ihnen beim Essen zur Hand zu gehen.“ Die Dame musterte Karim mit misstrauischen Blicken. Er fuhr fort: „Haben Sie Kinder? Oder Freunde? Dann könnten die diesen Dienst tun. Aber die sind jetzt nicht hier. Ich bin hier. Mich, den Sie ‚Rassist‘ nennen und vielleicht sogar Terrorist meinen. Ich tue, was Ihre Kinder oder Freunde nicht tun. Ich helfe Ihnen. Wenn Sie also Hunger haben, dann drücken Sie bitte den Knopf.“ 

Karim wuchs in Afghanistan auf. Noch als Minderjähriger musste er das Land verlassen. Seine Flucht dauerte drei Jahre. Erlebnisse von Gewalt und Unterdrückung begleiteten ihn. Sie brannten sich tief in seine Seele ein. Als er Finnland erreichte, kam er in ein Heim. Lehrerinnen und Erzieher kümmerten sich um ihn. Zum ersten Mal wurde er wieder wie ein richtiger Mensch behandelt. Doch als die Duldung endete, musste er erneut fliehen. Dieses Mal nach Berlin. Er fand in St. Christophorus Aufnahme ins Kirchenasyl. Deshalb kennen wir uns. 

„Wir können reden“

Karim hilft seither bei unserer Essensausgabe für Arme und Bedürftige. Von dem einen oder anderen Gast bekommt er schon mal einen gehässigen Spruch zu hören. Aber Karim weiß, wie man kontert. „Du kennst mich nicht. Du kennst nicht meine Geschichte. Warum sprichst Du so zu mir?“ Oder: „Was glaubst Du: Wie wird Krieg beendet? Mit Waffen? Ich habe erlebt, was Waffen bedeuten. Reden bringt Frieden. Ich habe deine Sprache gelernt. Wir können reden.“ Karim verschafft sich Respekt. Und er gibt nicht auf, obwohl er gute Gründe hätte. Viele haben ein Zuhause, er nicht. So viele haben eine Familie. Er war allein. In Deutschland begegnen ihm Ablehnung und Diskriminierung – und doch ist sein größter Wunsch ein dauerhafter Aufenthalt hier. Und die Ausbildung zum Krankenpfleger abschließen, die er gerade angefangen hat. Karim wird einmal zu einem Rückgrat unserer Gesellschaft werden, davon bin ich überzeugt.

Übrigens: Die pflegebedürftige Dame im Seniorenheim besann sich dann doch und drückte den Knopf. Am Ende seiner Zeit im Pflegeheim sagte sie voll Freude: „Danke!“

Lissy Eichert
Quelle: bonifatiusblatt 2/2024, In: Pfarrbriefservice.de

Lissy Eichert ist Pastoralreferentin in Berlin-Neukölln. Seit 2015 gehört sie zum Sprecherteam des „Wort zum Sonntag“ in der ARD.

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Text: Lissy Eichert, Quelle: bonifatiusblatt 2/2024
In: Pfarrbriefservice.de