„Die Kirche verspielt ihren letzten moralischen Kredit, den sie noch hatte, weil sie es nicht schafft, sich kritisch mit sich selbst zu befassen.“
Ein Interview mit Schwester Katharina Ganz über den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche
Dieses Interview ist nur in unveränderter und ungekürzter Weise für den Abdruck freigegeben.
Schwester Katharina Ganz ist Generaloberin der Oberzeller Schwestern bei Würzburg. Sie arbeitet im Synodalen Weg als Beraterin im Forum "Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche". Sie setzt sich für Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der katholischen Kirche ein. Und sie spricht sich offen für die Weihe von Frauen aus. Ein Gespräch mit ihr über sexuellen Missbrauch, die Fähigkeit zur Selbstkritik und das Versagen der Kirche.
3677 Kinder und Jugendliche wurden laut einer Studie von statista in der katholischen Kirche sexuell missbraucht. Bei der Zahl handele es sich um eine „untere Schätzgröße“. Das bedeutet, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Zahlen hinter denen sich Einzelschicksale, Traumata, Leid verbergen. Zerstörte Leben. Eine traurige, unfassbare, schreckliche Bilanz. Wie konnte das passieren?
Schwester Katharina Ganz: Die MHG-Studie hat analysiert, dass es neben persönlichen Ursachen für sexualisierte oder andere Gewalt an Schutzbefohlenen auch systemische Ursachen gibt. Ein klerikales, männerbündisches System, in dem man sich gegenseitig deckt und schützt, kann Ursache dafür sein, dass solche Verbrechen geschehen konnten.
Rund 70 Jahre vertuscht die katholische Kirche den Missbrauch. Im Januar 2010 ist es soweit. Klaus Mertes, Leiter des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin macht den sexuellen Missbrauchsskandal an seiner Schule öffentlich. Er ist der erste Pater in Deutschland. Entzündet damit eine Zündschnur, die in den Folgejahren zu einer gewaltigen Explosion führt. 11 Jahre wird seither diskutiert.
Die Kirche verliert massiv an Vertrauen und verspielt ihren letzten moralischen Kredit, den sie noch hatte, weil sie es nicht schafft, sich kritisch mit sich selbst zu befassen. Die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Selbstkritik an sich fehlen.
Hat es die Kirche nicht nötig?
Doch, denn das führt dazu, dass die Austritte immer galoppierender voranschreiten. Dass sich Menschen abwenden und sagen: Wir können diese Institution nicht mehr ernst nehmen.
Weil sie sehen, dass die Kirche Nächstenliebe, Frieden, die Achtung des menschlichen Lebens predigt. Kirchenvertreter aber Menschen vergewaltigen, missbrauchen, quälen. Eine Doppelmoral?
Es geht um eine glaubwürdige Verkündigung des Evangeliums. Das gelingt aber nicht, wenn die Kirche die eigenen Strukturen und das eigene Verhalten nicht berücksichtigt. Ich kann nicht glaubhaft die Liebe Gottes und Jesu Christi verkünden, die den Armen, den Kleinen, den Unterdrückten gilt, wenn ich durch meinen eigenen Machtapparat und meine Strukturen dazu beitrage, dass Menschen klein gehalten und diskriminiert werden.
Sondern?
Wir müssen überlegen, wie die Kirche Sakrament des Heiles sein kann, Sakrament der Befreiung, der Ermutigung, des aufrechten Ganges. Wir müssen die Menschenwürde aller Menschen im Blick haben.
Eine glaubwürdige Aufarbeitung der sexuellen Missbrauchsfälle wäre ein erster Schritt. Wie könnte er aussehen?
Als Pater Mertes die sexuellen Missbrauchsskandale öffentlich machte, hat das den Jesuiten mittelfristig in ihrem Ansehen nicht geschadet. Im Gegenteil! Das, was da zu Tage gefördert wurde, wurde ernst genommen. Es gab ein echtes Durchgehen durch diese Demütigungen. Dadurch hat der Jesuitenorden letztlich neues Vertrauen generiert. Es gibt Orte, an denen man sich der eigener Schuld und dem eigenen Versagen gestellt hat. Ich denke, es würde unserer Kirche gut anstehen, solche Wege mutiger, ehrlich und offen zu beschreiten. Ohne Angst vor Verlust.
Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Ronja GojIn: Pfarrbriefservice.de