Die Top Ten der antisemitischen Vorurteile:
Warum sie wahr sind
1. Juden haben Hakennasen
Grundsätzlich gilt: Alles, worüber Juden Witze machen, trifft zu. Meine Nase sieht eindeutig sonderbar aus. Möglicherweise noch keine klassische Hakennase, wie man sie aus Nazikarikaturen kennt, aber doch zu lang. Kürzer zwar als die der meisten meiner Familienmitglieder, aber eben zu lang. Macht nichts, ich habe auch abstehende Elefantenohren, die diese Nase wunderbar ergänzen.
Wir Juden haben ja den Drang, alles zu kommentieren, auch uns selbst, weshalb der Talmud wie ein voll gekritzeltes Schulbuch aussieht.
2. Juden haben Glatzen
Was soll ich sagen? Mein Vater hat eine Glatze. Er hatte schon immer eine Glatze, an seine Haarfarbe erinnere ich mich nicht. Mischas Vater hat eine Glatze. Über die Glatze ist er trauriger als ich. Früher zählte er seine verbliebenen Haare. Nun rasiert er sich immer den Kopf, damit man die Glatze nicht als solche erkennt. Ich find’s nicht schlimm. Er ist doch Jude.
Zumindest in dem Land, aus dem ich komme, war das ein weit verbreitetes Klischee.
3. Juden haben viel Geld
Rothschilds Existenz will ich natürlich nicht leugnen. Leider Gottes ist er nicht mit uns verwandt (obwohl alle Juden irgendwie miteinander verwandt zu sein scheinen oder es angeblich sogar sind).
4. Juden sind Wucherer
Der „Judenzins“ ist bekannt. Ich selbst verleihe ja eher Bücher als Geld. Die kriege ich leider nur selten zurück (weshalb ich dann Geld für andere Bücher ausgeben muss; ein Teufelskreis). Ich sinniere schon länger darüber, einen Bücherjudenzins einzuführen: Wer ein Buch zu spät oder unzufrieden zurückgibt – unzufrieden, obwohl ich eines meiner geliebten Bücher voller Begeisterung weitergegeben habe –, muss den Bücherjudenzins zahlen. So käme ich zu Geld und könnte eine richtige Jüdin werden, die Bücher verleiht zu Wucherpreisen. Die Welt wäre dann ein Stück weit mehr so, wie man sie sich vorstellt. Und ich hätte Geld und Bücher.
Ja, ich bin in einem Land ohne Meinungsfreiheit aufgewachsen, und manchmal, wenn auch selten, macht sich das bemerkbar.
5. Juden haben eine problematische Beziehung zu ihrer Mutter
Nein, natürlich nicht. Aber damit würde ich lügen. (Was Juden ja auch angeblich gern tun.) Also, jetzt mal jüdisch-ehrlich: Problematisch ist die Beziehung nicht. Aber sie, wie soll ich sagen, gestaltet den Alltag: „Wie hast du geschlafen? Hast du das gesunde Kopfkissen benutzt, das ich dir neulich geschickt habe? “, „Was hast du gefrühstückt? Wie, du frühstückst nicht? Das ist doch die wichtigste Mahlzeit des Tages!“, „Weißt du, wie kalt es in München werden soll? Nimm einen Schal. Jaja, ich leg schon auf!“ Und das alles vor neun Uhr morgens. Aber problematisch? Nein, problematisch ist die Beziehung nicht.
Schon gar nicht Deine und meine, mein Sohn. Nicht wahr?
6. Juden sind schlauer als andere
Schachspielen konnte ich mit drei, lesen mit vier Jahren. An meiner Intelligenz liegt das nicht – etwas anderes hätte ich meinem Vater schlichtweg nicht antun können. So wie sportverrückte Väter in US-Filmen von ihren Söhnen erwarten, Baseball zu spielen, und nicht damit umgehen können, wenn diese lieber Ballett tanzen, so ist es für jüdische Eltern unvorstellbar, dass das Kind keine Leseratte ist, wie sie, ihre Eltern, Groß- und Urgroßeltern es gewesen sind.
7. Juden sind verschlagen, hinterlistig, gerissen
Gerissen schon. Hinterlistig nicht. Gerissen mussten die Juden sein, um zu überleben. Weil es oft um Leben und Tod ging – oder um den Alltag. „Ich hätte gerne das Fischbrötchen! “, bestellt ein Jude. „Das ist aber Schinken, nicht Fisch!“, antwortet der Verkäufer. „Habe ich Sie gefragt, wie der Fisch heißt? “ Gerissen schon. Hinterlistig nicht.
8. Juden sind Lobbyisten, klüngeln
„Das ist einer von uns“, sagt mein Vater, wenn er jemanden etwas Kluges im Fernsehen sagen hört. Auch auf Hebräisch ist „jemand von uns“ ein gängiger Begriff. So eine Art große Familie, ein Zusammengehörigkeitsgefühl über Landesgrenzen hinweg. Weil Jüdischsein irgendwie verbindet. Warum, wissen wir selbst nicht so genau. Heutzutage bezeichnen manche das als „Judenlobby“. So nennt das aber „keiner von uns“.
Deshalb haben wir ja auch ein Gremium, das „Jüdischer Weltkongress“ heißt.
9. Jüdische Weltverschwörung
Ist doch kein Klischee, gibt’s doch wirklich. Man muss nur die Augen aufmachen. Die jüdische Claims Conference erschlich sich zum Beispiel Entschädigungszahlungen in Höhe von 42 Millionen Dollar. Das ist zwar noch keine Weltverschwörung an sich, sondern eine Sauerei und im Grunde ein Phänomen, das nicht nur in der Politik weit verbreitet ist. Aber man könnte es, wenn man wollte, als ein Vorzeichen von Weltverschwörung betrachten. Andere Vorzeichen fallen mir nicht ein. Denn: Leider dürfen bei der Weltverschwörung nur auserwählte Juden mitmachen. Mich laden sie nicht dazu ein.
Gelder, die irgendwie irgendwo auftauchen, wo sie nicht sein sollten.
10. Juden sind inzestgefährdeter als andere
Nur, wer so gute Filme macht wie Woody Allen, darf heiraten, wen er will. Und wenn’s seine Katze ist.
Lena Gorelik
mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Lena Gorelik: Lieber Mischa, der du fast Schlomo Adolf Grinblum geheißen hättest, es tut mir so leid, dass ich dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude. List Taschenbuch, 3. Auflage 2016. In: Pfarrbriefservice.de
Lena Gorelik, geboren 1981 in Sankt Petersburg, kam 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie als „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland. Sie ist Journalistin und Schriftstellerin.
Datei-Info:
Dateiformat: .doc
Dateigröße: 0,05 MB
Sie dürfen diesen Text für alle nichtkommerziellen Zwecke der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Pfarr-/Gemeindebrief, Plakat, Flyer, Website) sowie für Unterrichtszwecke* nutzen. Die Nutzung ist in dem beschriebenen Rahmen honorarfrei. Sie verpflichten sich den Namen des Autors/-in, als Quelle Pfarrbriefservice.de und ggf. weitere Angaben zu nennen.
*) Ausführliche Infos zu unseren Nutzungsbedingungen finden Sie hier.
Wir freuen uns über die Zusendung eines Belegs an die Redaktionsanschrift.
Beispiel für den Urhebernachweis, den Sie führen müssen, wenn Sie den Text nutzen
Text: Lena Gorelik, mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Lena Gorelik: Lieber Mischa, ... Du bist ein Jude. List Taschenbuch, 3. Auflage 2016.In: Pfarrbriefservice.de