Was die weiße Kirchengeschichte übersieht
Luther, Melanchthon und Abba Mika’el aus Äthiopien
Die Reformation in Europa hatte mit dem Rest der Welt nichts zu tun, sondern war eine rein innereuropäische Angelegenheit. So habe ich es im Theologiestudium gelernt. Aber das ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Theologie aus einer verengten, weißen Perspektive gelehrt wird. Denn tatsächlich gab es zur Reformationszeit intensive kirchliche und theologische Kontakte zwischen Afrika und Europa. Ein Beispiel dafür ist der Besuch des äthiopischen Abba Mika’el in Wittenberg im Frühsommer 1534.
Wie es sich für eine evangelische Theologin gehört, habe ich im Studium auch Seminare in Kirchengeschichte belegt, und natürlich auch in Reformationsgeschichte. Ich habe viel über Luther gelernt, über Calvin, Melanchthon, Bucer … über europäische Reformationsgeschichte. So, wie ich das gelernt habe, genügte Europa sich selbst. Der Rest der Welt war nicht im Blick.
Verflechtung der europäischen Reformation mit dem afrikanischen Christentum
Und darum war ich komplett überrascht, als ich 2020 die Einladung zu einer Vorlesung des Chicagoer Professors David Daniels bekam. Daniels lehrt am McCormick Theological Seminary World Christianity, und in seiner Vorlesung ging es um die Verflechtung der europäischen Reformation mit dem afrikanischen Christentum.
Hä? Nie gehört? So ging es mir auch! Und ich habe Bauklötze gestaunt, welche Beziehungen es im 16. Jahrhundert zwischen Kirchen und Theologen (von Theologinnen weiß man da leider nichts) in Europa und Afrika gab.
Die Vorlesung von David Daniels hat mich motiviert, da mal genauer nachzusehen. Und darum lese ich jetzt gerade die neue Studie von Stanislau Paulau: Das andere Christentum. Zur transkonfessionellen Verflechtungsgeschichte von äthiopischer Orthodoxie und europäischem Protestantismus. Diese Doktorarbeit versteht sich als Beitrag zu einer „globalen Christentumsgeschichte“: Denn Kirchen haben sich nie unabhängig voneinander in nationalen Bubbles entwickelt, sondern immer in Beziehung zueinander und Abgrenzung voneinander. Und dass das christliche Äthiopien für die europäischen Reformatoren eine wichtige Bedeutung hatte, wurde bisher in der Kirchengeschichte weitestgehend übersehen oder ignoriert.
Afrikanisch-deutscher ökumenischer Dialog in Wittenberg
Mit akribischer Archivarbeit hat Paulau die folgende Geschichte rekonstruiert: Am 31. Mai 1534 traf der äthiopische Abba Mika’el in Wittenberg ein. Dieser äthiopische Diakon hatte vermutlich vor seiner Reise nach Wittenberg mehrere Jahre in Rom gelebt, wo es zu dieser Zeit eine aktive äthiopische Klostergemeinschaft gab.
Mit Hilfe eines Dolmetschers führten Martin Luther und Philipp Melanchthon eine Reihe theologischer Gespräche mit ihm; Melanchthon schrieb darüber in mehreren begeisterten Briefen. Diskutiert wurden unter anderem die Trinitätslehre und das Abendmahlsverständnis. Dabei betonten beide Seiten eher das Verbindende als das Trennende.
Jedenfalls endete dieser proto-ökumenische Dialog mit der festen Überzeugung auf beiden Seiten, dass die orthodoxen Äthiopier und die Wittenberger Reformatoren trotz Unterschieden in der Lehre zu der einen, gemeinsamen Kirche Christi gehörten. Das war angesichts des Bruchs der Reformatoren mit Rom und der Fragmentierung innerhalb des reformatorischen Lagers die konkrete Erfahrung eines geglaubten Bekenntnisses.
So stellte Luther Abba Mika’el vor seiner Abreise sogar ein förmliches Empfehlungsschreiben aus, denn der wollte nach Straßburg weiterreisen, um dort den elsässischen Reformator Martin Bucer zu treffen.
Der erste Kontakt zwischen einer afrikanischen Kirche und der Reformation beruhte also auf afrikanischer Initiative! Es waren nicht die Europäer, die Afrika entdeckten, sondern Äthiopier, die Europa erforschten.
Abba Mika’el muss Martin Luther nachhaltig beeindruckt haben, denn er hat noch Jahre später immer wieder über diesen Besuch gesprochen. Die Begegnung mit dem Äthiopier hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, dass die theologischen Einsichten der Reformation nichts Neues waren, sondern die Wiederentdeckung der ursprünglichen kirchlichen Botschaft.
Dass eine für Luther und Melanchthon so zentrale Begegnung in der Kirchengeschichtsschreibung bisher weitestgehend ignoriert wurde, ist ein klarer Hinweis für einen eurozentrisch verengten Blick.
Äthiopisches Christentum interessiert die Reformatoren
Was ich auch aus Paulaus Studie gelernt habe: In der Folge des Wittenberger Treffens beschäftigten sich mehrere Reformatoren sehr intensiv mit dem äthiopischen Christentum, manche lernten sogar die äthiopische Kirchensprache.
1540 erschien in Lissabon eine lateinische Einführung in die äthiopische Theologie durch Sägga Zä’ab, das erste in Europa gedruckte Werk eines subsaharischen Theologen. Dieses Buch wurde von mehreren europäischen Reformatoren, unter anderem von Martin Bucer gelesen und diskutiert. Ökumene ist also keine Erfindung des 20. Jahrhunderts!
Claudia Währisch-Oblau
Quelle: https://rassismusundkirche.de, In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Claudia Währisch-Oblau, Quelle: https://rassismusundkirche.deIn: Pfarrbriefservice.de