„Achtsamkeit hilft uns in der heutigen Zeit gelassen zu bleiben, verständnisvoll, mitfühlend.“

Ein Interview mit Günter Hudasch

Die Menschen dieser Zeit, sie scheinen gegeißelt von Stress, Hast, Eile. Bietet Achtsamkeit einen Ausweg aus diesem Hamsterrad? Günter Hudasch ist Vorsitzender des MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) – MBCT (Mindfulness Based Cognitive Therapy) – Verbands. In dem sich Achtsamkeitslehrende zusammengeschlossen haben. Ein Gespräch mit ihm über die Reizüberflutung dieser Zeit, den süchtigen Geist des Menschen und die ethische Komponente von Achtsamkeit.

Achtsamkeit ist in. Achtsamkeit ist trendy. Achtsamkeit wird gehypt. Warum?

Günter Hudasch: Ich denke, dass Achtsamkeit en vogue ist, weil die Leute nicht mehr abschalten können. Sie haben Stress und suchen etwas, das ihnen hilft, ihren Stress zu reduzieren. Es gibt eine sehr große Sehnsucht nach innerer Ruhe.

Aber woher kommt dieser Stress?

Wir sind vielfach vom täglichen Leben überfordert. Viele Leute leben in immer unsicheren Verhältnissen. Es gibt weniger Halt in Familien, in Partnerschaften. Sie werden brüchiger. Jobs sind nicht mehr sicher. Die Anforderungen an jeden Einzelnen sehr hoch.

Gleichzeitig ist der Terminkalender vollgestopft. Der Alltag verplant. Jede freie Minute muss effektiv genutzt werden.

Ja, pausenlos Entertainment, Internet, Informationen. Das ist, glaube ich, schlimmer geworden. Ich habe heute den Eindruck: Wenn nichts passiert, bin ich nicht entertained, dann muss ich sofort etwas machen.

Dafür stehen viele kleine Helfer bereit. Fernsehen, Computer, Smartphone, Social Media.

Wir bekommen heute eine Menge Nachrichten. Wir kriegen weltweit Informationen über jedes kleine Unglück, über jede kleine Demonstration irgendwo.

Aber, es ist wichtig, informiert zu sein. Bescheid zu wissen. Auf dem aktuellen Stand zu sein.

Es spricht nichts dagegen, dass sich Menschen politisch, inhaltlich interessieren und engagieren. Aber, es spricht etwas dagegen, dass wir Menschen uns ohne Grenzen aufladen. Mit Informationen, mit Meinungen, mit Impulsen. Wir erschöpfen uns mit einem Overload, einer völligen Überdosis an Informationen. Die können wir nicht verarbeiten. Ich glaube, wir sind durch Reizüberflutung überfordert.

Merken die Menschen nicht, dass ihnen diese Lebensweise nicht gut tut?

Die Menschen füttern mit all diesen Dingen ihr süchtiges Gehirn, ihren süchtigen Geist.

Süchtiger Geist?

Ja, unser Geist ist unruhig, suchend. Er will immer Neues erleben, immer neue Befriedigung, neue Anregungen. Er wühlt immer neue Gedanken auf, geht immer neuen Impulsen nach. Ständig kommen neue Körperempfindungen, Emotionen. Und er hat im Gegensatz von vor 200 Jahren viel mehr Optionen sich zu bedienen.

Kann Achtsamkeit in dieser Zeit des Stresses, der Hektik, der Reizüberflutung helfen?

Ja, in Übungen, in der Meditation setzen wir uns damit auseinander, wie der eigene Geist funktioniert. Wir bemerken, dass das Reaktionen unseres Geistes sind. Wir steigen aber nicht auf dieses Karussell ein. Wir sagen: „Wow, eine Menge Unruhe hier“ und schauen freundlich und mitfühlend an, was unser Geist macht.

Und reden uns alles schön?

Nein, es geht nicht darum, dass wir alles gut finden und nette Zustände in uns herstellen. Achtsamkeit heißt, dass ich in mir und um mich herum wahrnehme, was im Moment passiert, ohne es zu werten. Egal, ob es nett ist oder nicht, schmerzhaft oder schön. Das, was freudig ist, kann ich als Ressource für mich nehmen, aber ich kann auch bei dem bleiben, was schwierig ist. Bei schwierigen Gedanken, Ängsten, Körperempfindungen.

Das hört sich anstrengend an.

Den Geist zur Ruhe kommen zu lassen, ist wahnsinnig schwierig, weil es nicht seiner Arbeitsweise entspricht. Es ist möglicherweise anstrengend, wenn Sie sich hinsetzen und eine halbe Stunde Ihren Atem beobachten. Sie werden schnell feststellen, es kommen jede Menge Gedanken. Sie werden unruhig und denken: Och ne, jetzt höre ich auf.

Deswegen empfehlen Sie einen achtwöchigen Kurs, bei dem sich die Teilnehmer gegenseitig unterstützen. Sie treffen sich einmal in der Woche für zweieinhalb Stunden.

Jede Woche geht es um ein anderes Thema. Wir beschäftigen uns mit der Theorie und der Praxis. Wir machen Meditationsübungen und Achtsamkeitsübungen, die zwischen einer halben und einer dreiviertel Stunde dauern. Diese Übungen versucht man in seinen Alltag zu integrieren.

Was bewirken diese Übungen?

Wenn zum Beispiel jemand in der Arbeit zur Türe reinkommt, dann haben Sie sofort einen Eindruck von dieser Person. Sie kriegen möglicherweise einen Schweißausbruch, weil sie Ihnen Angst macht. Sie können das nicht verhindern. Aber, wenn Sie sich das bewusst machen, wenn Sie das nicht werten, können Sie Ihre Reaktionen wirklich studieren und im nächsten Schritt überlegen: Ist das realistisch oder kann ich mich entspannen? Sie nehmen Abstand von der Reaktion, die schnell und automatisch kommt. Sie lernen, weniger darauf zu reagieren.

Aber Reaktionen sind sinnvoll. Sie schützen davor, sich in Gefahr zu bringen.

Nein, diese inneren Reaktionen, die wir für die Realität halten, sind gelernte Mechanismen. Sie sind angst- und abwehrgetrieben. Achtsamkeit ist der Schlüssel dazu, dass wir nicht aus unseren automatischen, reaktiven Impulsen heraus handeln, sondern aussteigen. Dann können wir uns beruhigen, mit all dem, was unser Geist produziert. Können Gelassenheit entwickeln und haben die Wahl eine möglichst heilsame Reaktion zu wählen.

Wie äußert sich diese Gelassenheit im Alltag der Menschen?

Die Menschen können mit ihren Schwierigkeiten anders umgehen. Mit sich, mit Kollegen, mit dem ganzen Umfeld. Zum Beispiel erzählte mir ein Kursteilnehmer: „Meine Mitarbeiter fragen, ob ich etwas mache, denn ich bin ruhiger geworden. Ich springe nicht mehr bei jedem kleinen Reiz an."

Achtsamkeit hat einen großen Einfluss auf jeden Einzelnen, aber auch auf andere Menschen. Auf das Miteinander in dieser hektischen Zeit.

Achtsamkeit hat eine starke ethische Komponente. Bin ich ok mit dem, was ich mache? Finde ich das vertretbar? Schauen Sie sich an, in welcher Welt wir heute leben. Es gab noch nie so viele Menschen, so viele unterschiedliche Bewegungen in der Gesellschaft, so viele Informationen. Achtsamkeit hilft uns gelassen zu bleiben, verständnisvoll, mitfühlend. Wir können mit all dem mit mehr Ruhe und Offenheit umgehen. Anstatt aus unseren automatischen Impulsen heraus mit Angst, Sorge und Abgrenzung zu reagieren. Ich glaube, dass Achtsamkeit eine starke politische Dimension und verbindende Wirkung hat.

von: Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Ronja Goj
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