„Allein zu leben gilt in der Kirche immer noch als Mangel“

Theologe Thomas Weißer zum defizitären Umgang der Kirche mit Singles

Seit Jahren steigt die Zahl der Singles in Deutschland, vor allem in Großstädten leben immer mehr Menschen allein. Für die katholische Kirche ist das eine besondere theologische und pastorale Herausforderung, schließlich widersprechen Singles mit ihrer Lebensweise dem kirchlichen Ideal von Ehe und Familie. Im katholisch.de-Interview spricht der Bamberger Theologe Thomas Weißer über den ebenso kritischen wie defizitären Blick der Kirche und des Lehramts auf allein lebende Menschen. Außerdem erläutert er, was die Kirche tun muss, um auch Singles stärker eine Heimat zu bieten. Dabei beruft er sich auch auf das „beste und größte Single-Vorbild für Christen“: Jesus Christus.

Professor Weißer, laut Untersuchungen nimmt die Zahl der Singles in Deutschland seit Jahren zu. Vor allem in Großstädten leben immer mehr Menschen – freiwillig oder unfreiwillig – allein. Die katholische Kirche hat diese wachsende Gruppe bislang aber kaum im Blick. Oder täuscht dieser Eindruck?

Thomas Weißer: Nein, dieser Eindruck täuscht nicht. Zwar gibt es in einzelnen Bistümern inzwischen durchaus pastorale Angebote für Singles. Das ist aber immer noch die Ausnahme. Insgesamt hat die Kirche Singles als eigenständige und wachsende gesellschaftliche Gruppe tatsächlich nicht im Blick.

Warum ist das so?

Thomas Weißer: Das hängt natürlich ganz wesentlich mit der katholischen Auffassung von der Komplementarität der Geschlechter und dem darauf aufbauenden Verständnis von Ehe und Familie als Keimzellen der Gesellschaft zusammen. Aus Sicht der Kirche sind Mann und Frau zu einem Miteinander berufen, und das idealerweise in der Ehe, die auf Dauer angelegt und grundsätzlich offen für die Weitergabe des Lebens ist. Die familiale Gemeinschaft ist für die Kirche das Ideal – und dem entsprechen Singles mit ihrer Lebensweise nun mal nicht. Die Vorstellung, dass Menschen bewusst oder schicksalshaft allein leben, gibt es in der Kirche eigentlich nicht. Im Gegenteil: Wer allein lebt, gerät im kirchlichen Kontext mitunter in Verdacht, sich gegen die Norm zu stellen.

Was sagt denn das kirchliche Lehramt zu Singles? Oder finden die in lehramtlichen Dokumenten gar nicht statt?

Thomas Weißer: Grundsätzlich tauchen Singles in den lehramtlichen Dokumenten eigentlich nur am Rande auf – und dann meist in einem negativen Kontext. Nehmen Sie etwa das „Instrumentum laboris“ zur Bischofssynode 2014. Das stellte fest, dass es besonders in Europa und Nordamerika eine rasch wachsende Zahl ehelicher Gemeinschaften gibt, „die nicht offen sind für die Weitergabe des Lebens, sowie von Einzelnen, die ihr Leben als Singles organisieren“. In einer Reihe mit Beziehungen, die keine Nachkommen haben wollen, wird das Leben von Singles hier als ein Dasein dargestellt, dem etwas fehlt. Auffällig ist zudem, dass Singles lehramtlich vor allem als getrennt lebende oder geschiedene Eheleute wahrgenommen werden oder als Objekt caritativer Zuwendung vorkommen. So forderte Papst Johannes Paul II. 1981 in seinem Schreiben „Familiaris consortio“, dass die christliche Familie in besonderer Weise ein Herz haben müsse für die Alleinstehenden.

Was schließen Sie aus diesen Beispielen?

Thomas Weißer: Sie zeigen, dass die Lebensform alleinstehender Menschen vom Lehramt in aller Regel nicht als eigenständige und zu würdigende Lebensweise betrachtet wird. Allein zu leben, das gilt in der Kirche immer noch als Mangel. Dass die lehramtlichen Texte damit der konkreten Lebensführung vieler Singles nicht gerecht werden, die mit ihrem Leben durchaus zufrieden sind und sich zum Teil auch bewusst dafür entschieden haben, kommt nicht in den Blick.

Passen Kirche und Singles also eigentlich gar nicht zusammen?

Thomas Weißer: Nein, so pauschal würde ich das nicht sagen. Schöpfungstheologisch ist zwar vor allem der Satz tradiert worden, dass es für den Menschen nicht gut sei, allein zu bleiben. Doch von Ehe und Familie ist in der Schöpfungsgeschichte nicht die Rede. Im Gegenteil: Gott hat Frau und Mann als komplette Personen geschaffen. Sie sind also auch als Einzelne Menschen mit voller Würde – und nicht erst, wenn sie in einer Partnerschaft leben und Kinder in die Welt setzen. Diese Erkenntnis muss theologisch und pastoral viel stärker nachvollzogen werden.

Wie meinen Sie das?

Thomas Weißer: Wenn die sakramentale Ehe als Verbindung von Frau und Mann mit dem Ziel der Nachkommenschaft das alleinige Ideal christlichen Lebens bleibt, wird sich an der Heimatlosigkeit von Singles im Raum der Kirche nur wenig ändern. Hilfreich wäre deshalb eine Sichtweise, die weniger an den äußeren Strukturen der Lebensform hängt und stärker die inneren Kriterien der individuellen Lebensführung wahrnimmt. Eine solche Sichtweise und darauf aufbauende pastorale Angebote könnten Alleinstehenden helfen, sich in der Kirche willkommen, erwünscht und begleitet zu fühlen.

Was heißt das konkret?

Thomas Weißer: Ein Beispiel: Das zentrale Lebensthema vieler Singles ist es, ein tragfähiges soziales Netzwerk aufzubauen. Singles besitzen als Alleinlebende oftmals nur eingeschränkt die Möglichkeit, in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld über ihren Alltag zu sprechen, Sorgen und Freuden, Erfolge und Niederlagen mit anderen zu teilen. Deshalb sind soziale Netzwerke für sie so wichtig und von hoher emotionaler Bedeutung. Kirche kann hier einen Ort bieten, an dem sich solche Netzwerke etablieren, gerade weil es in Gemeinden oftmals leicht ist, persönlichen Kontakt herzustellen.

Sollte sich die Kirche für ihren Umgang mit Singles das Beispiel Jesu vor Augen führen, der ja ebenfalls alleinstehend war?

Thomas Weißer: Jesus ist sicher auch hier ein gutes Vorbild. Die evangelische Theologin Astrid Eichler hat ihn einmal als das „beste und größte Single-Vorbild für Christen“ bezeichnet – sicher eine ungewohnte, aber doch keine falsche Perspektive. Jesus war zeit seines Lebens ungebunden. Er kannte das Alleinsein und suchte es sogar: in der Wüste, im Gebet, im Rückzug. Dennoch stand Jesus auch in vielfältigen Beziehungen: zu seiner Familie, zu seinen Anhängern, zu seinen Gegnern. Er suchte Kontakt, lud sich ein, aß und trank bei und mit anderen. Die Lebensform Jesu kann also durchaus als Anknüpfungspunkt für eine Theologie und eine Pastoral für Singles dienen.

Kann die Kirche auch selbst etwas von den Singles und ihrer Lebensweise lernen?

Thomas Weißer: Ganz sicher. An einer Gruppe wie den Singles zeigt sich, ob die Kirche die Zeichen der Zeit erkennt und bereit ist, allen Menschen – unabhängig von ihrer Lebensweise – die Frohe Botschaft zu verkünden. Singles bieten der Kirche die Chance, dass sie glaubhaft machen kann, dass jeder in ihr einen Platz finden kann – nicht nur Familien, Kranke, Alte und Junge, sondern eben auch Menschen, die alleinstehen. Das aber fordert einen neuen Umgang mit vielen kirchlichen Selbstverständlichkeiten. Wie sieht etwa Weihnachten in der Gemeinde aus, wenn nicht allein das Familiäre im Mittelpunkt steht? Wie lassen sich Kreise und Netzwerke etablieren, in denen Alleinstehende einen Stand haben? Wo kommen typische Single-Themen wie Identität, Lebensführung, Einsamkeit oder Freundschaft in der konkreten Pastoral vor? Die Kirche sollte auf diese und ähnliche Fragen Antworten finden.

Interview: Steffen Zimmermann
Quelle: www.katholisch.de (09.07.2021), In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Steffen Zimmermann, Quelle: www.katholisch.de
In: Pfarrbriefservice.de