Den Mangel wahrnehmen

Das hilft mir, wenn ich neidisch bin

Der Neid steht auf der Hitliste menschlicher Charaktereigenschaften nicht ganz oben. Zumindest im eigenen Herzen möchte man ihn keinesfalls als nöligen Mitbewohner, der beständig schlechte Stimmung verbreitet und herrisch der Zufriedenheit den Mund verbietet. Darf er schon nicht hier wohnen, so kommt er doch in regelmäßigen Abständen zu Besuch, immer uneingeladen und oft überraschend. Lange Zeit habe ich versucht, diesem ungeliebten Besucher mit aller Entschlossenheit die Tür zu weisen, ihn abzuschütteln und nicht auch noch das Gästebett zu beziehen. Doch dann wurde sein Zetern lauter und unangenehmer, er breitete sich aus und hinterließ überall die Spuren seiner Anwesenheit.

Heute haben wir eine Vereinbarung. Klopft der Neid an die Tür, bitte ich ihn herein und heiße ihn nicht herzlich, aber doch höflich willkommen. Er will mir eine Botschaft bringen. Die Botschaft erzählt von einem Mangel, den mein Herz verspürt. Eine Wochenendreise, einen blühenden Garten oder ein vollständiges Tafelservice. Dann tröste ich meinen Besucher und erkläre ihm, dass das nur ein harmloser Anfall von „Haben-wollen-Krankheit“ ist. Die vergeht ähnlich schnell wie eine Grippe und ist absolut unbedenklich.

Manchmal ist der Mangel aber ein echter Schmerz und sehr berechtigt. Der Neid berichtet dann von der Sehnsucht nach Entlastung, Anerkennung oder dem dringenden Bedürfnis nach einer Veränderung. Ich überlege, wie ich diesen Mangel beheben kann, welche ersten Schritte ich gehen könnte. Manches lässt sich nicht beheben, aber es wahrnehmen und darum trauern kann man schon. „Danke, lieber Neid, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast!“ Dann lächelt er und geht auf leisen Sohlen. Bis zum nächsten Mal. Er hat eine kleine Schwester. Sie heißt Missgunst und ist wirklich gemein. Die darf keinesfalls ins Haus, noch nicht mal für eine Tasse Tee.

Sandra Geissler
Quelle: FamilyNEXT 4/22, www.family.de, In: Pfarrbriefservice.de

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und zurzeit Familienfrau. Sie bloggt unter 7geisslein.com.

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Text: Sandra Geissler, Quelle: FamilyNEXT 4/22, www.family.de
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