Der Koran - die Offenbarungsschrift des Islams
Während im Christentum Jesus als das Fleisch gewordene Gotteswort im Zentrum des Glaubens steht, gilt dies im Islam für den Koran. Als „Buch gewordenes Wort Gottes“ verkörpert der arabische Text für Muslime die Quintessenz aller göttlichen Offenbarung. Als „Leitung für die Gottesfürchtigen“ (Koran 2.2) verdeutlicht er dem Menschen, welche Erwartungen Gott an ihn stellt, und zeigt ihm gleichzeitig Möglichkeiten auf, wie er diese Erwartungen erfüllen kann.
Anders als das Neue Testament - und erst recht als das Alte Testament - ist der Koran innerhalb eines recht kurzen Zeitraums entstanden. Die Anfänge werden etwa auf das Jahr 610 datiert; mit dem Tod Mohammeds 632 war die Text-Sammlung vollständig und wurde binnen weniger Jahre in ihre heute vorliegende Endfassung gebracht. Im Alter von etwa 40 Jahren hatte Mohammed mit dem Befehl "iqra'!" (rezitiere, trage vor!) seine Berufung zum Propheten erhalten. Hiervon leitet sich der Begriff "qur'an" bzw. Koran ab. Um den Wortlaut der Offenbarungen zu sichern, beauftragte der Prophet zu seinen Lebzeiten sowohl Personen, die den Text mündlich weiter gaben, als auch Sekretäre, die einzelne Abschnitte schriftlich niederlegten. Mit so genannten diakritischen Zeichen wurde später die exakte Lesart dauerhaft sichergestellt.
Ewig oder erschaffen?
Im neunten Jahrhundert entbrannte ein heftiger Streit zwischen einer als Muctazila bekannt gewordenen theologischen Rechtsschule und der islamischen Orthodoxie über die Natur des Korans. Während die Orthodoxen darauf beharrten, der Ur-Koran sei als unerschaffenes Wort seit jeher bei Gott existent, vertraten die Muctaziliten die Auffassung, der Koran sei von Gott erschaffen und insofern nicht unmittelbar selbst göttlicher Natur. Letztendlich setzte sich die orthodoxe Position durch und wirft bis heute Fragen nach dem rechten Umgang mit dem Text auf.
Formal gliedert sich der Koran in 114 Kapitel (Suren), die in Reimprosa verfasst sind und den Muslimen als Inbegriff sprachlicher Vollkommenheit gelten. Die einzelnen Verse werden als Zeichen (Ayat) bezeichnet, weil den Gläubigen jeder einzelne in seiner Unnachahmlichkeit als Wunder bzw. Zeichen für den göttlichen Text-ursprung und seine Authentizität gilt. Die Reihenfolge der Suren entspricht nicht der Chronologie ihrer Herabsendung. Im Großen und Ganzen sind sie nach ihrem Umfang geordnet, so dass die Abschnitte zunehmend kürzer werden. Entsprechend finden sich die kürzen, älteren Offenbarungen eher gegen Ende des Buches.
Generell ist festzuhalten, dass der Koran eine Schrift ist, die - ähnlich wie die Bibel - aus dem Blickwinkel des Glaubens betrachtet werden will: als Selbstmitteilung Gottes. Es handelt sich dabei nach islamischem Verständnis um die gleiche Botschaft, die bereits Abraham, Moses, Jesus und andere empfangen hatten, um sie ihren Zeitgenossen zu verkünden. Wegen wiederholter Verfälschungen sei es aber notwendig geworden, Mohammed als dem "Siegel der Propheten" den Koran herab zu senden und damit die Offenbarungsgeschichte abzuschließen.
Offenbarung contra Theologie?
Unbeschadet ihrer Ehrfurcht vor dem Gesamttext haben sich die islamischen Gelehrten seit jeher mit der Entstehungsgeschichte des Korans beschäftigt. So weiß man, dass die frühen Suren sich in erster Linie mit den großen theologischen Leitthemen beschäftigten. Später, nach Gründung des ersten islamischen Gemeinwesens in Medina, bezog sich die Mehrzahl der Verse auf das Zusammenleben der Menschen untereinander und orientierte sich an den konkreten Erfordernissen bzw. Lebensumständen der jungen Glaubensgemeinschaft. In diese Kategorie fallen auch konkrete Rechtsvorschriften - die aber nur einen sehr kleinen Teil des koranischen Textes ausmachen - und Aussagen über das Verhältnis der Muslime zu ihrer nichtislamischen Umwelt. Eingebettet sind diese heute teilweise umstrittenen Passagen aber in die vielfach wiederholten Grundaussage des Korans, wonach der gnädige und barmherzige Schöpfergott den Menschen durch seine (Selbst-)Offenbarung den Weg zum Heil aufzeigen und erleichtern möchte.
Gerade weil für Muslime der Koran authentisches Wort Gottes ist, gehört die Frage nach dem rechten Textverständnis zu den Kernaufgaben der islamischen Theologie: Welche Offenbarungen galten einer bestimmten geschichtlich bedingten Situation? Welche Aussagen sind zeitlos gültig und möglicherweise über die islamische Gemeinschaft hinaus als verbindlich anzusehen?
Am Ende münden alle menschlichen Anstrengungen, der koranischen Offenbarung ihre letzten Geheimnisse zu entreißen, in die bescheidene (Selbst-)Erkenntnis
Allahu aclamu - Gott weiß es besser.
Edith Schlesinger
E. Schlesinger ist Referentin im Referat für Interreligiösen Dialog und Weltanschauungsfragen im Erzbistum Köln
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Text: Edith SchlesingerIn: Pfarrbriefservice.de