„Der Mitmensch als Gefahr – das muss man erstmal verarbeiten“

Ein Interview zur Frage, was die Corona-Krise für die Kirche bedeutet

Die Corona-Krise hat Christen mitten in der Fastenzeit erwischt. Deutlicher als je zuvor steht der Verzicht im Vordergrund, aber auf irritierende Weise. Es geht jetzt um den Verzicht auf soziale Kontakte, Verzicht auf Gottesdienste in der gewohnten Form, Verzicht auf Hilfe von Angesicht zu Angesicht. Was bedeutet die Corona-Krise für den christlichen Glauben und für die Gemeinden vor Ort? Drei Fragen an den Theologen Markus Tomberg.

In der Corona-Krise bedeutet Nächstenliebe, sich vom Nächsten räumlich zu entfernen, und Solidarität erfordert jetzt Vereinzelung. Für christlich gesinnte Menschen muss das doch irritierend sein, oder?

Markus Tomberg: Für alle Religionen, die Gemeinschaft wollen und brauchen, ist das fatal. Dass es keinen ernsthaften Widerspruch gab, als in Deutschland die Gottesdienste abgesagt wurden – ein einmaliger Vorgang! -, zeigt, wie ernst die Lage ist. Aber es ist ein Zeichen von Solidarität. „Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“, hat die Bundeskanzlerin im Fernsehen gesagt. Ja, Nächstenliebe geht auch so. Das kann dann sogar eine ganz intensive, eine spirituelle Erfahrung sein.
Denn dazu kommt ja noch etwas. Wir halten Abstand, weil wir sonst einander zur Gefahr werden. Der Mitmensch ist für mich eine potentielle Bedrohung. Und ich für ihn. Das muss man erst einmal verarbeiten.

Kann die christliche Religion helfen, die Corona-Krise besser zu verstehen? Oder hilft gar die Corona-Krise beim Verständnis der christlichen Religion?

Markus Tomberg: Dass wir gerade in der österlichen Bußzeit leben, hat schon Bedeutung. Da geht es ja um Verzicht, um den Abstand – meist machen wir das mit Wohlstandsgütern wie Süßigkeiten oder Alkohol. Jetzt wird das ganz existentiell erfahrbar. Und ist gelebte Solidarität. Die Sorge um die schwer Erkrankten, um die Sterbenden, die Trauernden ist dem Christentum ja eingeschrieben. Selten aber leben wir die kollektiv so intensiv wie jetzt gerade. Aber gerade da zeigt sich im Konkreten auch, dass es da keine glatten Antworten gibt. Wer jetzt Kranke nicht besuchen darf, Sterbende nicht verabschieden, weiß um die Not, in der wir leben.
Und es geht eben auch um eine Selbsterfahrung. Was heißt es, die anderen als Gefahr zu erleben, selbst eine Gefahr zu sein – und davon nicht zu wissen, das natürlich auch nicht zu wollen? Meine Existenz wird da plötzlich zum Problem.

Ob andersherum das Christentum helfen kann, die Corona-Krise zu verstehen, weiß ich nicht. Dass die keine Strafe Gottes oder so ist, wie manche gemeint haben behaupten zu müssen, haben die christlichen Kirchen in Deutschland ja mit einem gemeinsamen Wort deutlich gesagt. Wir leiden an der Natur, wir leiden an der Schöpfung und in der Schöpfung, wir leiden aneinander und an uns selbst – und Gott leidet mit uns. Er ist solidarisch. Vielleicht kann man das so sagen. Es ist so etwas wie ein langer Karfreitag, hat ein Kollege mir dieser Tage gesagt. Wenn man nach draußen schaut, ist es ja auch so. Die Natur blüht. Die Sonne scheint oft. Aber die Straßen sind leer. Und es ist viel zu still.

Welche praktischen Folgerungen sind daraus zu ziehen?

Markus Tomberg: Ich glaube, da ist die Fastenzeit wieder hilfreich. Es geht um Umkehr. Wir können Kirche-Sein neu lernen.
Zum einen, was die Kommunikation angeht. Kirche lebt von Kommunikation. Die kann man auch digital machen. Oder per Telefon. Oder sogar, ganz old school, per Brief. Wir müssen wieder lernen, miteinander zu reden. Ich habe den Eindruck, dass in der ersten Woche nach der Absage der Gottesdienste mit viel Engagement Gottesdienste gestreamt worden sind. Das war die totale Einbahnkommunikation. Inzwischen merken wir: Streaming allein ist nicht genug. Wir müssen miteinander reden. Videos und Podcasts helfen dabei. Aber wir brauchen die Rückkanäle. Und jemanden, der zuhört, der mitredet. Und da steht viel auf dem Spiel. Reden wir nicht immer von einem Gott, der zuhört, der redet, der sogar Antwort gibt? Das muss in der Kirche deutlich werden. Wir müssen das lernen.
Es geht auch um noch mehr Solidarität. Die Krise verschärft gerade die Ungleichheit in einigen Bereichen. Da wartet viel Arbeit.
Und wir müssen wieder raus aus dem Binnenkirchlichen. Gottesdienststreamings, das ist etwas für eine kleine Gruppe von Menschen und für die sehr wichtig. Aber es gibt noch so viele andere. Vor einigen Wochen haben wir so viel über Evangelisierung gesprochen beim Synodalen Weg. Kirche hat jetzt die Aufgabe zu evangelisieren. Und das heißt in der Corona-Krise auch wieder: Wir müssen zuhören, Rede und Antwort stehen. Es gibt so viel Verunsicherung und Angst. Wer tröstet? Da ist noch viel Luft nach oben!

Interview: Peter Weidemann, In: Pfarrbriefservice.de

Zur Person: Markus Tomberg ist Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät Fulda.

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Text: Peter Weidemann
In: Pfarrbriefservice.de