Der versteinerte Schrei

In mir sitzt er noch, der Schrei bei der Geburt von Luca. Jener Schrei, den alle Frauen ausstoßen, wenn sie ein Kind gebären. Jener befreiende Schrei, dem die ersten Töne eines neugeborenen Kindes folgen, das erste hilflose Gewimmer oder der kräftige Protest. Alle Frauen schreien, kreischen im Kreißsaal, daher der Name. Auf der Station ist diese Geräuschabfolge immer wieder zu hören: erst die Frau, dann das Baby.

Ich hatte auch nicht vor, den Helden zu markieren. Ist ja auch kein Zeichen von Schwäche, in einem solchen Moment nicht Haltung zu bewahren, besonders wo es seit jeher so ist: Frauen kriegen Kinder nun mal unter Schmerzen; wieso sollte ich da eine Ausnahme sein.

Als die mir im Krankenhaus endgültig (ENDgültig!) klar gemacht hatten, dass unser kleiner Luca nicht mehr lebt, habe ich zwar erst geschrien und geheult, aber irgendwie ist auch etwas verhärtet in mir. Äußerlich genau wie die anderen Frauen auf der Station mit dickem Bauch voller Baby, aber doch so anders. Nicht mehr Stolz und voller Vorfreude auf den zukünftigen Erdenbewohner, nicht mehr hocherhobenen Hauptes, weil in meinem Körper so etwas Tolles geschieht, nicht mehr schwungvoll dynamisch, wie ich noch in der vierzigsten Woche zum Schwimmen und Einkaufen gegangen bin. Nein: gelähmt, gebrochen, gebückt und voller Scham darüber, dass ich Luca nicht das Leben schenken würde. So habe ich denn auch die Wehen versucht mit Haltung zu ertragen, mich zu entspannen und das Notwendige hinter mich zu bringen: nur ja kein Stöhnen, keinen Laut des Schmerzes; eben Haltung.

Woher sollte ich das Recht nehmen, das zu tun, was alle Frauen im Kreißsaal tun, wenn ich das nicht schaffe, was die anderen scheinbar selbstverständlich hinkriegen: anschließend ein lebendiges Kind im Arm zu halten. Jede Mutter wartet nach der letzten Presswehe auf den ersten Ton des hoffentlich gesunden Nachwuchses.

Aber wenn man schon vorher weiß, dass es keinen Laut geben wird! Die Quälerei einer Geburt ohne Freude, um die ertragenen Schmerzen vergessen zu machen. Also müssen die Schreie eben stumm bleiben, versteinern.

Heute weiß ich, dass dieser dicke Stein noch in mir sitzt, mich behindert bei allem, was ich tue. Ich möchte ihn so gern zertrümmern, um mich wieder freier bewegen zu können, um dieses Gewicht von Körper und Seele abzuwerfen. Niemand sieht diese zentnerschwere Last, aber ich fühle sie.

Wie werde ich den versteinerten Schrei wieder los? Ich möchte schreien, so laut, toben, zerstören, wüten und mich ganz gehen lassen. Trotzdem - ich kann nicht, immer Haltung, immer beherrscht, immer kontrolliert.

In der Eifel sagt man bei allem: Stell dich net esu ahn, et wit ald widder joot. Anderes habe ich nie gelernt. Man verliert nicht die Beherrschung, und wenn, dann nur ganz still im Kämmerlein, wo es keiner sieht und hört. Man duldet, ist tapfer, und geweint wird nicht: es hätte ja noch schlimmer kommen können.

Da stehe ich nun mit meinem Felsblock auf der Seele, funktioniere nach außen wie immer, aber es kostet mich so unendlich viel Kraft; Kraft,

die ich nicht mehr habe und die ich auch nicht weiß, wie ich sie wieder aufladen kann. Ich muss den Stein loswerden, sonst bin ich bald völlig am Ende.

aus: Gerda Palm: Jetzt bist du schon gegangen, Kind. Trauerbegleitung und heilende Rituale mit Eltern frühverstorbener Kinder. Don Bosco Verlag, 2001. www.palm-beratung.de; www.pfarrbriefservice.de

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Das Schwerpunktthema für Oktober 2010

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Text: www.palm-beratung.de
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