Die Kunst der Selbstliebe: In der Antike eine Tugend, in der Moderne ein Weg zu mehr Authentizität

Haben Sie sich heute schon geliebt? Diese Frage mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, doch sie berührt einen Aspekt der menschlichen Existenz, der Philosophen seit Jahrtausenden fasziniert. Ist Selbstliebe nur ein Ausdruck von Egoismus, oder könnte sie der Schlüssel zu einem tieferen, erfüllten Leben sein? Dieser Essay erkundet unterschiedliche philosophische Blickwinkel auf die Selbstliebe und beleuchtet, was große Denker von Aristoteles bis zu Sartre darüber zu sagen haben.

Aristoteles: Die Tugend der Selbstliebe

Der antike Denker Aristoteles verstand unter Selbstliebe nicht bloß ein Wohlgefühl, sondern eine Tugend. Er unterschied zwischen einer Selbstliebe, die auf moralischer Rechtschaffenheit und guten Taten basiert, und einer weniger wünschenswerten Form, die sich in Egoismus und Selbstsucht äußert. Für Aristoteles war Selbstliebe also eng mit ethischer Integrität und praktischer Weisheit verbunden. Er betonte, dass Selbstliebe sich um das eigene Wohl auf eine Art und Weise kümmern muss, die gleichzeitig auch anderen zugutekommt. Ein Beispiel hierfür wäre ein Arzt, der durch die Hingabe für sein Fach seine eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse erweitert, um sich noch besser um seine Patienten kümmern zu können. Wahre Selbstliebe trägt zur Gemeinschaft bei und bedeutet ein aktives, tugendhaftes Leben, das zur Glückseligkeit (Eudaimonia) führt. Dabei ist sie grundsätzlich selbstgenügsam und nicht von äußeren Gütern abhängig.

Nietzsche: Selbstüberwindung als Lebenskunst

Friedrich Nietzsche sah die Selbstliebe als ein Mittel, sich selbst zu überwinden und das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten. Indem er die Wichtigkeit dieses Aspektes hervorhebt, steht er in einem gewissen Kontrast zu Aristoteles’ Betonung der moralischen Tugenden. Nietzsche sah in der herkömmlichen Selbstliebe eine Quelle der Schwäche, weil er sie mit Selbstzufriedenheit und Passivität in Verbindung brachte. Er forderte eine Selbstliebe, die zur ständigen Selbstverbesserung und Kreativität anregt: „Du mußt jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen.“ (Nietzsche, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, 1881). Beispielhaft hierfür könnte der Künstler stehen, der unaufhörlich an seiner Kunst arbeitet, um sich selbst und seine Fähigkeiten zu übertreffen.

Fromm: Selbstliebe als Schlüssel zur Kunst des Liebens

Der Sozialpsychologe Erich Fromm betont in seinem Klassiker „Die Kunst des Liebens“, dass echte Selbstliebe die Grundlage für jede andere Form der Liebe ist: „Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden.“ Wahre Liebe beginnt also bei mir selbst, was jedoch gerade nicht bedeutet, sich über andere zu stellen oder egoistische Interessen zu verfolgen. Vielmehr geht es darum, sich selbst mit derselben Fürsorge, Respekt und Verantwortung zu behandeln, die wir auch unseren Liebsten entgegenbringen würden. Fromms Analyse der Selbstliebe zeigt, dass sie ein essenzieller Bestandteil menschlicher Entwicklung und ein Schlüssel zu einem erfüllten Leben sein kann. 

Hannah Arendt: Vita Activa und Vita Contemplativa

Hannah Arendt dachte intensiv über die Bedeutung des eigenen Handelns in der Welt nach und wie dieses das Selbstbild formt. In ihren Konzepten von Vita Activa und Vita Contemplativa können wir eine Auffassung der Selbstliebe ableiten, die über bisherige Bedeutungen hinausweist. Arendt zeigt, dass ein erfülltes Leben nicht nur die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen erfordert, sondern auch Phasen der Reflexion und des Verstehens.

Die Vita Activa meint Tätigkeiten, wie Arbeiten, Herstellen und Handeln. Diese sind notwendig, um sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern, Selbstwirksamkeit zu erfahren und sich in der Gemeinschaft zu verwirklichen. Die Vita Contemplativa beinhaltet das Denken, Wollen und Urteilen. Es geht darum, ein tieferes Verständnis für sich selbst zu entwickeln, bewusste Entscheidungen zu treffen und die eigenen Handlungen und Erfahrungen kritisch zu reflektieren.

Selbstliebe im Sinne Arendts bedeutet somit ein ausgewogenes Wechselspiel beider Dimensionen. Die Kombination aus aktiver Teilnahme am Leben und kontemplativer Reflexion fördert ein erfülltes und authentisches Dasein.

Existentialismus und Selbstliebe: Sartre und Beauvoir

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, beide Vertreter des Existentialismus, diskutierten Selbstliebe im Licht der persönlichen Freiheit und Authentizität. Sartre betonte die Bedeutung der Wahlfreiheit und des Lebens in Übereinstimmung mit selbstgesetzten Zielen. Beauvoir fügte hinzu, dass Frauen es oft aufgrund sozialer Rollenerwartungen schwer haben, sich selbst als Subjekte wahrzunehmen, was sie unter anderem an wahrer Selbstliebe hindert. Sie ermutigt Frauen, sich von traditionellen Rollenbildern zu befreien, um ihr eigenes, selbstbestimmtes und authentisches Leben zu führen.

Fazit

Selbstliebe durch die Brille der Philosophie betrachtet fordert uns heraus, über unsere eigene Natur nachzudenken und unser Leben so zu gestalten, dass es nicht nur uns selbst, sondern auch anderen gerecht wird. Aktuelle Debatten und Studien zeigen, dass Selbstliebe ein wichtiger Faktor für psychische Gesundheit und zwischenmenschliche Beziehungen ist. Fragen Sie sich selbst: Wie praktizieren Sie Selbstliebe in Ihrem Alltag? Welche philosophischen Perspektiven sprechen Sie am meisten an? Die Erforschung dieser Fragen kann zu einem tieferes Verständnis unserer selbst führen und unsere Beziehungen zu anderen weiterentwickeln.

Quellenangaben:

  • Aristoteles, Nikomachische Ethik
  • Nietzsche, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, 1881
  • Fromm, Die Kunst des Liebens, 1956
  • Arendt, Vita activa, 1958
  • Sartre, Das Sein und das Nichts, 1943
  • Beauvoir, Das andere Geschlecht, 1949


Christian Schmitt

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Text: Christian Schmitt
In: Pfarrbriefservice.de