Genießen will gelernt sein
Innenansichten eines Kaffeehauses
Morgens um halb neun ist das Kaffeehaus wie ausgeruht. Die Zeitungen hängen noch ungelesen und die frischen Brötchen liegen bereit. Tassen und Teller stapeln sich friedlich, im Garten ist alles noch ruhig und kühl. Allein in der Küche brutzelt es schon für den Mittagstisch. Es riecht nach frischem Hefeteig, nach Zwiebeln und Speck.
Natürlich ist das nicht immer so, auch ein Kaffeehaus ist morgens mal verkatert, wenn abends zu lange gefeiert wurde, oder nach einem Literaturabend im Salon. Jeden Tag fühlt es sich anders an. Jeder, der hier war, lässt etwas da. Und so ist für mich das Kaffeehaus eine wachsende Seele, die jeden Morgen neu, voller Liebe und in Erwartung der Gäste bereitsteht, ein mildes Lächeln im Gesicht, so wie ein umsichtiger Kellner.
Was wussten wir schon, als wir vor vier Jahren in Wien aus dem Flugzeug stiegen und in weniger als einer Woche den Mythos der Kaffeehäuser ergründen wollten? Eigentlich nur, dass man ins Kaffeehaus keine eigene Zeitung mitnehmen muss. Denn – so meinte Bert Brecht, als er 1933 auf der Flucht vor den Nazi-Schergen für kurze Zeit in Wien lebte: „Wie jeder Zeitungsleser weiß, ist Wien um einige Kaffeehäuser herum gebaut, in denen die Bevölkerung beisammen sitzt und Zeitung liest.“ Und so ähnlich war es dann auch.
In unserem Stadtplan waren 36 Kaffeehäuser markiert, die wir alle besuchen wollten. Es war Winter und wie beleuchtete Vergnügungsdampfer fanden wir die Kaffeehäuser an den Straßenecken liegen. Elegant oder mit viel Patina erinnerte uns die Einrichtung an Wohnzimmer. Das Publikum ist nirgends nur jung und der Kuchen heißt hier Mehlspeise. Es gibt Wiener Würstchen mit Kren und Senf. Der Kellner genießt Autorität. Alte Männer sitzen stundenlang über ihrer Zeitung oder spielen Schach. Daneben debattieren Studenten, essen Mütter mit kleinen Kindern eine Suppe. Musik gibt es keine. Jeder hört lieber dem Tassengeklapper und den Gesprächen der Anderen zu. Das gefällt mir. „Kaffeehausfreiheit“ ist, wenn der Kellner mal länger brauchen darf und man dafür bei einem „Braunen“ mindestens drei Zeitungen lesen kann.
Irgendwann in diesen Tagen schleicht sich ein mildes Lächeln in unsere Gesichter, und nicht nur der viele Kaffee hat unser Lebensgefühl gestärkt. Es ist die Muße. Die Hingabe der Wiener zum Genuss hat uns angesteckt. Kaum einen „Raunzer“ haben wir in den Kaffeehäusern erlebt, einen, der wie hier in Berlin gleich unfreundlich wird, wenn ihm das Getränk nicht schon bei der Bestellung unter der Nase steht. Und so haben wir etwas gelernt: Wer nicht genießt, ist ungenießbar.
Dass das Genießen nicht von selber kommt, sondern dass es Zeit braucht, die man sich nehmen muss; dass man die Muße begehen muss wie einen kleinen Feiertag, damit man sie spürt, und wie gut das doch in einem Kaffeehaus gelingt, weil es dort so leckere Speisen und Getränke gibt. „Zeithaben ist die Wichtigste, die unerlässlichste Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur“, schreibt Balzac. Im Kaffeehaus verfliegt die Zeit. Man geht dort nicht hin, um Kaffee zu trinken, sondern man geht ins Kaffeehaus und trinkt Kaffee.
Wieder in Berlin machen wir uns daran, ein Kaffeehaus zu gründen. Für uns, für andere, und so wie in Wien soll es sein. Genauso rote Bänke wie im Kaffee Drechsler an der linken Wienzeile, Vorhänge wie im Kaffee Sperl im 6. Bezirk, und anfühlen sollte es sich am besten wie das Kaffee Museum an der Operngasse, in dem wir in diesen Wiener Tagen immer wieder gelandet sind.
Zwei Jahre später freuen wir uns, wenn morgens die frühen Zeitungsleser kommen, um bei uns alleine zu sein, ohne sich allein zu fühlen. Zum Mittagessen treffen sich die Geschäftsleute von gegenüber. Der Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und Eis gehört den Müttern und Kindern oder auch den Spätaufstehern und Touristen. Abends wird Schach gespielt. Im Sommer genießen alle ihr Bier im Garten. Und doch ist Berlin nicht Wien ...
Wo sind bei uns die alten Leute geblieben? Warum sitzen sie nicht einmal im Kaffeehaus? Und wann nehmen sich die Menschen hier endlich etwas mehr Zeit zum Genießen und Seele-baumeln-lassen? Das Kaffeehaus ist auf jeden Fall schon einmal da.
Suzan Vetter-Bayha
aus: paternoster 2/2002, Zeitschrift der Emmaus-Ölberg-Gemeinde in Berlin, www.emmaus.de
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Text: Suzan Vetter-BayhaIn: Pfarrbriefservice.de