Gott sprach: Es werde Licht!

Poesie: Wenn Sprache neue Wirklichkeit schafft

Die Bibel ist eine Sammlung von Liedern und Gedichten, von Erzählungen und starken Bildern, sie ist Poesie im besten Sinne: Ihre Worte wirken und schaffen neue Wirklichkeiten. Ganz am Anfang erzählt die Bibel von einem Gott, der mit Worten unsere Welt erschafft.

Das Christentum gilt neben Judentum und Islam als eine der großen Buch- bzw. Schriftreligionen. Die große Chance der Verschriftung ist es,Worte festzuschreiben und sie damit vor dem Vergessen und vor der Veränderung zu bewahren. Ihre volle Kraft entfalten Worte aber nicht zwischen Buchdeckeln oder in Schriftrollen, sondern wenn sie gelesen, vorgelesen, vorgetragen oder gesungen werden.

Im Lesen und Hören können uns Worte berühren, sie erzeugen Gefühle und stoßen Gedanken an, und haben so eine Wirkung auf uns. Wenn wir diese Wirkung spüren und ihr Raum geben, wenn wir also den Gedanken nachgehen und damit unser Bild von der Welt sich verändert oder weitet oder unsere Haltung eine andere wird, dann wird aus den Worten eine neue Wirklichkeit. Und wenn aus den Gefühlen, wenn aus der Emotion eine Motion, eine Bewegung wird, wenn wir uns also verändern lassen und anders handeln und leben, dann wirken die Worte weiter in die Welt.

Damit sind wir bei der Bedeutung des Wortes Poesie.Vom Griechischen poiesis abgeleitet meint Poesie etwas erschaffen. Und damit ist nicht nur das Erschaffen von Versen gemeint: In den starken Bildern des Alten Testaments wird die Welt durch Worte erschaffen: „Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht.“ Im Neuen Testament beginnt das Evangelium nach Johannes mit dem Bekenntnis, dass in Jesus das Wort Fleisch geworden ist: ein Gedanke, eine Verheißung, der Geist Gottes ist Mensch und lebendig geworden.

Worte, die klären und verdichten

Worte können Klarheit schaffen, indem sie etwas auf den Punkt bringen. Spürbar wird das im deutschen Wort Dichtung: Da wird etwas in wenigen Worten verdichtet. Wenn etwas Wichtiges in Schriftform festgehalten wird, dann kann das Halt geben. Das, was sehr wichtig ist, wird in der Bibel in Stein gemeißelt: In zehn gut merkbaren Sätzen gibt uns der Dekalog (wörtlich: das Zehnwort) eine verdichtete Lebensordnung.

Im Erzählen und Wiederholen unserer gemeinsamen Lebensgeschichten und im Verschriften dieser Erfahrungen vergewissern wir uns unserer Herkunft und erzeugen unsere Identität als Gruppe. Die Exoduserzählung vom Auszug aus der Sklaverei in Ägypten ist für das jüdische Volk solch eine identitätsstiftende Geschichte. Der einzelne Mensch wird damit in Zusammenhänge eingebunden, die weit über sein eigenes Leben und seinen Wirkungskreis hinausgehen. Ein christliches Beispiel ist das Bild von Gott als unser aller Vater – damit werden wir Menschen zu Geschwistern, weltweit und über alle Zeiten hinweg.

Worte, die klingen und stärken

Neben den Geschichten mit ihren starken Bildern und den verdichteten Worten der Sprüche oder Gebote finden sich in der Bibel auch Lieder. Das griechische Wort für Lied ist psalmos, und 150 solcher Psalmen finden sich im gleichnamigen Buch. Die Gefühlslagen, die in ihnen schwingen, reichen von Verzweiflung und Flehen, von Trauer und Zorn bis hin zu Jubel und Dankbarkeit. Lieder können uns anrühren und mitreißen, wir finden uns selbst in ihnen wieder und erleben uns verbunden mit anderen. Wenn wir uns trauen, wirklich zu singen, wird das zu einem körperlichen Erlebnis, sei es in einem Chor oder im Fußballstadion, alleine oder in einem Gottesdienst.

Worte wirken auch zwischen Menschen. Wenn sie abwerten und spalten, wenn sie entmutigen und verletzen oder Schlechtes wünschen, sind sie ein Fluch. Wenn sie uns stärken, sind sie ein Segen. Bene-dicere ist das lateinische Wort dafür. Es bedeutet übersetzt Gut-Sagen: Das Gute benennen, das schon ist; das Gute benennen, das es braucht oder das noch fehlt; das Gute benennen, was sich noch ereignen darf oder soll. Wenn wir so wohlwollend miteinander sprechen, werden wir wahre Wunder wirken.

Worte, die uns herausfordern

In den Geschichten der Bibel werden Menschen immer wieder aus ihrem gewohnten Leben heraus gefordert. Sei es Mose, der das Volk in ein Land führen soll, in dem Milch und Honig fließen. Seien es die mahnenden Worte, die Gott an sein Volk vor dem Einzug in dieses gelobte Land richtet und es auf ein Leben in seinem Sinn verpflichtet: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“.

Wir können die Worte der Bibel als Teil einer längst vergangenen Geschichte lesen, und uns trefflich darüber streiten, ob all das wirklich so war. Damit halten wir diese Worte in der Vergangenheit und damit weit von uns weg.Wir können sie aber auch als Poesie lesen, als starke Bilder und als Anspruch, als Worte eben, die auch an uns gerichtet sind und uns ansprechen. Wenn wir die Bibel in dieser Weise als poetischen Text begreifen, dann schmälern wir sie nicht, sondern wir fügen ihr eine Dimension hinzu – eine, die uns anrührt und uns bewegt, die uns aus unseren üblichen Sichtweisen heraus fordert und unsere Sehnsucht weckt nach dem Land der Verheißung.

Worte, die über uns hinausweisen

Poesie ist kein Sachbuchtext, der beschreibt und damit festschreibt, der definiert, also abgrenzt und unterteilt. Poesie ist Sprache, die anregt und öffnet, verknüpft und verbindet, unseren Blick weiten will und unser Herz bewegt. In diesem Sinn ist auch Beten Poesie: Es ist Sprechen am Rande der Sprache, wenn uns die Worte fehlen. Es ist Sprechen an der Grenze unserer Macht, wenn wir das Leben nicht mehr in der Hand haben und unsere Ohnmacht spüren. Und weil Beten das Sprechen an dieser Grenze ist, ist es zugleich Sprechen über diese Grenze hinaus – weil die Wirklichkeit viel größer und weiter und faszinierender ist, als wir jetzt gerade spüren und wahrnehmen können. Der Text der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Almut Haneberg „im Schatten der Angst“ ist für mich so ein Gebet, das mir hilft, wenn ich meine Grenzen ganz arg spüre.

Tauchen Sie ein in die Texte der Bibel! Lassen Sie die Worte auf sich wirken, die Bilder zu Ihnen sprechen, und lauschen Sie auf den Widerhall, den Sie in sich spüren!

Gerhard Wastl, Pastoralreferent
Quelle: Trialog, Pfarrmagazin des Pfarrverbandes Obergiesing, In: Pfarrbriefservice.de

im Schatten der Angst

im Schatten der Angst
der Hoffnung trauen

im Nicht-mehr
und Noch-nicht
zwischen gestern und morgen
das Heute bejahen

machtlos zulassen
dass ich nicht leisten muss
was ich nicht leisten kann

aufhören mir zu beweisen
dass ich es doch könnte

Grenzen spüren
und ihnen erlauben zu sein

ahnen
dass die Zerrissenheit
mich öffnet für Neues

der Angst vor Schwäche und Versagen
offen ins Auge sehen

die verheißungsvolle Zukunft
nicht mit Befürchtungen erschlagen

Schritt für Schritt suchen
und suchen und weitergehen

mich von Gottes Zumutung
wandeln lassen

wachsam sein
für sein alltägliches
Ich-bin-da-für-dich

im Schatten der Angst
der Hoffnung trauen
und mich Tag für Tag
entscheiden fürs Leben

Almut Haneberg, In: Pfarrbriefservice.de

Weitere Materialien
von

Almut Haneberg

im Schatten der Angst
der Hoffnung trauen

im Nicht-mehr
und Noch-nicht
zwischen gestern und morgen
das Heute bejahen

machtlos zulassen
dass ich nicht leisten muss
was ich nicht leisten kann

aufhören mir zu beweisen
dass ich es doch könnte

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Text: Gerhard Wastl, Pastoralreferent, Quelle: Trialog, Pfarrmagazin des Pfarrverbandes Obergiesing
In: Pfarrbriefservice.de