Komm herein!
Eine Geschichte über Barmherzigkeit
„Horcht!“, sagt die Eichhörnchendame zu ihren Kindern, „ich glaube, es kommt ein großer Sturm!“ Sie schaut besorgt in den Himmel und drückt die Eichhörnchenkinder fest an sich.
„So ein entsetzliches Brausen habe ich noch nie gehört“, wundert sich der Fuchs. Er spitzt seine Ohren und schnuppert misstrauisch in die Luft.
Der alte Igel blickt unruhig um sich. „Was für ein grauenhafter Wind heute!“, sagt er und stemmt seine winzigen Beinchen fest in den Boden.
Die Eichhörnchendame hat recht: Es dauert nicht lange, bis ein Sturm durch Wälder und Wiesen fegt, heftig und furchtbar, wie man es noch nie erlebt hat.
Blätter und Blumen wirbeln wild durch die Luft. Bäume brechen wie Zahnstocher.
„Mein Nest fliegt davon!“, schreit die Amsel.
„Unser Baumhaus auch!“, rufen die Eichhörnchen, „wo sollen wir hin?!“
Die Rehe und Hasen springen wie Heuschrecken von einem Platz zum anderen aus Angst vor den fallenden Bäumen.
Die Schafe und Kühe liegen flach auf der Wiese und halten sich aneinander fest.
Die Mäuse trauen sich nicht aus ihren Löchern. Sogar der große Bär klammert sich an einen Felsen, um nicht weggeblasen zu werden.
Und die Schmetterlinge und Bienen? Die Ärmsten! Die meisten von ihnen hat der Sturm fortgetrieben.
Wie eine Sintflut, so wütet der Sturm. Er reißt alles mit sich, was sich nicht wehren kann. Sogar an den Mauern der kleinen Burg, wo der alte Biber haust, rüttelt er mit seinen grausamen Armen. Doch die Burg ist stärker als der Wind.
„Wer klopft da draußen?“, fragt der Biber.
„Ich bin‘s, Herr Hoppel! Bitte lass mich rein“, jammert der Hase vor der Biberburg.
„Komm herein!“, sagt der Biber. Er öffnet das Burgtor, und Herr Hoppel macht einen Riesensprung. – Nichts wie hinein in die schützende Burg!
„Danke!“, sagt Herr Hoppel und setzt sich erleichtert auf den Boden. Er zittert wie verrückt.
„Ruh dich bei mir aus! Hier bist du sicher! “, sagt der Biber.
Doch schon klopft es wieder:
„Bitte lass uns hinein!“, rufen die Eichhörnchen. „Kommt herein!“, sagt der Biber.
Und gleich kommt der Nächste: „Bitte hilf mir!“, bettelt ein kleines Reh, „hier draußen packt mich der Wind! Ich bin zu schwach. Ich kann mich nicht wehren.“
„Komm herein!“, sagt der Biber, „die Burg wird dich schützen.“
„Lass bitte auch uns hinein!“, jammert ein Mäusepaar, „ein mächtiger Baum hat unsere Höhle verschüttet!“
„Kommt herein!“, sagt der Biber, „jeder braucht ein Zuhause.“
Jetzt pickt ein Huhn gegen das Burgtor. „Bitte mach auf! Der Sturm hat mich gegen einen Stein geschleudert. Ich bin verletzt“, gackert es. „Komm!“, sagt der Biber, „hier kannst du heil werden!“
Es ist kaum eine Stunde vergangen. Die Burg des Bibers hat sich ziemlich gefüllt.
So viele Gäste! So viele unterschiedliche Gäste!
„Mäh! Määäh!“, weint ein Lämmchen vor dem Burgtor.
„Ich habe meine Mutter verloren! Der Sturm hat sie vertrieben!“ „Komm herein!“, sagt der Biber, „hier sollst du spüren: Du bist nicht allein.“
Und mit dem Lämmchen kommt auch eine Amselfamilie durch das Burgtor herein.
„Dürfen wir bleiben?“, fragen sie den Biber. „Ja. Kommt herein! Hier könnt ihr bleiben“, sagt der Biber.
Dann kommen noch ein Esel und zwei Kühe, drei Schweinchen, ein Schwarm von Schmetterlingen, ein Pferd und ein Fuchs.
Dicht gedrängt hocken die Tiere nebeneinander und lauschen dem Sturm.
„Danke, Herr Biber!“, sagt der Fuchs, „ohne dich und ohne deine Burg wären wir verloren!“ „Ja. Danke!“, piepsen die anderen.
Da klopft es schon wieder. Es ist der große Bär. „Darf ich auch in deine Burg? Der Wind ist so kalt. Ich friere wie im tiefsten Winter.“ „Ja, komm herein!“, sagt der Biber.
„Aber der Bär ist so riesengroß. Der nimmt uns den Platz weg!“, schreien die Schweinchen. „Jawohl! Und er braucht auch mehr zu essen als wir. Und wir alle sind hungrig!“, rufen die anderen. „Jetzt ist genug! Die Burg ist voll!“
„Ja, Herr Bär ist riesengroß. Aber seine Not ist nicht kleiner als eure Not!“, sagt der Biber. „Komm herein, lieber Bär, und wärme dich! Wir werden zusammenrücken und Platz schaffen für dich.“
Als sich der Bär gerade schüchtern zu den anderen setzt, da klopft es schon wieder.
Besorgt schauen die Tiere zur Tür. „Nein! Jetzt geht wirklich nichts mehr!“, murmelt der Igel. Doch schon hören sie den Biber wieder sagen: „Ja! Komm herein!“
Es ist eine Schnecke. So schnell wie heute war sie noch nie unterwegs. Doch die Schnecke ist trotzdem immer die Letzte.
„Na gut! Für eine Schnecke finden wir auch noch Platz!“, ruft der Hase, „was kann sie dafür, dass sie so langsam ist. Schnecke bleibt Schnecke!“
Doch die Schnecke ist nicht die Letzte. Es klopft schon wieder.
Als der Biber die Tür aufmacht, schrecken alle zusammen.
Es ist der Wolf. Alle fürchten ihn. Alle wissen, wie grausam der Wolf zu den Hühnern und Hasen und zu den Eichhörnchen und Rehen ist.
„Nein! Der nicht! Auf keinen Fall! Nein! Der ganz bestimmt nicht! Der Wolf muss draußen bleiben!“, schreien die Tiere aufgeregt durcheinander.
„Doch! Auch für dich ist hier Platz!“, sagt der Biber zum Wolf, „warum bist du nicht früher gekommen?“
„Weil ich nicht gut zu den anderen war. Und weil mich niemand mag“, sagt der Wolf.
„Du bist herzlich willkommen: Komm herein!“, sagt der Biber.
Geschichte: Sigrid Zmölnig-Stingl
Zeichnungen: Sonja Häusl-Vad
Quelle: Kath. Kinderzeitschrift Regenbogen, www.kinder-regenbogen.at. In: Pfarrbriefservice.de.
Datei-Info:
Dateiformat: .doc
Dateigröße: 0,03 MB
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Text: Sigrid Zmölnig-Stingl, www.kinder-regenbogen.atIn: Pfarrbriefservice.de