„Nikolaus war einer, der seinen Nächsten liebte. Deswegen ist er ein Anti-Narzisst, ein Anti-Egomane. Einer, der das, was in unserer Gesellschaft um sich greift, auf die Füße stellt.“

Ein Interview mit Prof. Dr. Manfred Becker-Huberti

Egoismus. Rücksichtslosigkeit. Eigennutz. Das Leben, der Alltag, die Menschen scheinen aktuell von dieser Haltung durchdrungen zu sein. Woran liegt das? Wie gelingt es, einen Antitrend zu setzen? Und welche Rolle spielt dabei der heilige Nikolaus? Prof. Dr. theol. Manfred Becker-Huberti ist katholischer Theologe und Journalist, Experte für Religiöse Volkskunde, Autor und Honorarprofessor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Ein Gespräch mit ihm über Ideale, Austern und Saint-Exupéry.

Kopf hoch. Ellenbogen raus. Über Leichen marschieren. Die Gesellschaft scheint den Egoismus momentan in seiner puren, reinen Form zu leben. Wer hat den Menschen ihr Mitgefühl geklaut und durch Selbstsucht ersetzt?

Prof. Dr. Becker-Huberti: Uns werden durch die Medien Beispiele vorgeführt, die Egoismus vorleben, den Rückfall in Egomanie, in Selbstsucht und Eigenliebe. Beispiele, die das als besonders vorteilhaft erklären. Das ist nicht wahr, aber wir orientieren uns daran.

Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein. Liegt das daran, dass es den Menschen so gut geht, wie lange nicht? Deutschland liegt auf Platz 18 der reichsten Länder der Welt.

Ich glaube, es liegt daran, dass wir im Fernsehen, in den Filmen, in unserer Unterhaltung gezeigt bekommen, dass jeder Champagner säuft und Austern knackt. Aber wir vergessen dabei, dass das nur das vermeintliche Sahnehäubchen ist. Dass darunter das wirkliche Leben spielt.

Aber, waren die Menschen früher besser? Sozialer? Weil sie ärmer und deshalb aufeinander angewiesen waren?

Als die Gesellschaft ärmer war, war das Bewusstsein für Armut ein anderes, als heute, wo jeder versucht, auf der Sonnenseite der Straße zu stehen.

Ja, die Menschen scheffeln Statussymbole.

Mein Haus, mein Schiff, meine Frau.

Ausgefallene Sonnenuntergänge an puderweisen Sandstränden. Das leckerste Gericht, dekoriert mit Minzblatt und Ahornsirup. Das teuerste, superhippe Makeup. Und all das wird in den Sozialen Medien gepostet.

Es gibt heute einen gewissen Zwang zur Selbstinszenierung. Dazu gehört, dass ich durch andere angenommen werde, die mich bestätigen. Ich drehe mich daher ständig um mich selbst und vergesse dabei, dass ich nicht der Mittelpunkt der Welt bin, sondern ein Element in einem Ganzen.

Es ist doch schön Bestätigung zu erfahren, gemocht zu werden.

Wir müssen an unserem Menschenbild arbeiten und darüber nachdenken, was ideal ist! Ist es ideal hoch auf einer Säule zu stehen und von allen bewundert zu werden? Ist es wichtig, besonders viele Titel und Orden zu haben? Oder ein besonderes Auto oder eine Villa? Ich glaube, das Wesentliche ist etwas anderes. Das findet an ganz anderer Stelle statt. Da, wo wir, wie das Saint-Exupéry sagt, mit dem Herzen sehen.

Das hat auch dieser eine Heilige gemacht. Der anders war. Anders gelebt hat. Ihm war Nächstenliebe wichtig, Gemeinschaft, Rücksichtnahme. Er bildet heute einen Gegenpol, einen Kontrapunkt zur Ego-Gesellschaft. Der heilige Nikolaus.

Nikolaus war einer, der lebte, wie Christus gelebt hat. Einer, der seinen Nächsten liebte. Deswegen ist er ein Anti-Narzisst, ein Anti-Egomane. Einer, der genau das, was gegenwärtig in unserer Gesellschaft um sich greift, auf die Füße stellt. Er will nicht wieder einen Rückfall in das Heidentum, wo sich jeder selbst der Nächste ist und über Leichen geht. Er will genau das Gegenteil.

Hilft ein bisschen Nikolaus gegen Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht?

Ich glaube, viele Leute erkennen die Zwiespältigkeit, in der sie leben. Auf der einen Seite sagen sie zur Nächstenliebe: „Ja, das wäre schön“ und setzen es als Idealismus an. Auf der anderen Seite: „Leben kann man das nicht“. Aber, das ist eine bequeme Ausrede.

Warum?

Christsein kann manchmal anstrengend sein. Christentum heißt: Miteinander das Ziel erreichen! Nicht gegeneinander! Es geht darum, den anderen im guten Sinne zu lieben. Das heißt, ihm alles zu gönnen, was er braucht und unter Umständen selbst Verzicht zu üben. Das gilt sogar für Feinde. Das kann bedeuten, dass ich den unteren Weg gehen muss. Und das ist etwas, das wir in unserer Gesellschaft erst wieder lernen müssen.

Mit einem Heiligen als Vorbild? Einem, der vor mehr als 1500 Jahre gelebt haben soll. Der angebliche Wunder getan hat? Dessen Existenz nicht bestätigt ist. Die Menschen von heute werden laut lachen.

Ich glaube, dass die Menschen Vorbilder, Idole brauchen. Das Problem ist, dass der Skandal heute das eigentliche Thema ist, das Verrückte, das Abartige. Das wird in den Mittelpunkt gestellt. Nicht die Menschen, die sich um Frieden bemühen.

Aber sehen Sie sich doch die zahlreichen Prominenten an, die sich heutzutage für Menschen in Not einsetzen.

Ja, aber es wäre wichtig, dass Prominente wieder zu solchen Themen Stellung nehmen und zum Beispiel am Nikolaustag erklären, was für sie das Besondere daran ist und was sie bewegt. Dass sie andere auffordern, im gleichen Sinne zu handeln. Es wäre wichtig einen Antitrend zu setzen und öffentlich Beispiele zu leben, wie man wie Nikolaus leben kann.

Ein Beispiel sind Ehrenamtliche. Laut statista ist ihre Zahl von 13,4 Millionen im Jahr 2015 auf fast 16 Millionen im Jahr 2019 gestiegen. 

Es gibt sie in unserer Gesellschaft in großem Umfang. Viele Leute, die anderen helfen, die sich persönlich engagieren in der Suppenküche, im Hospiz und an anderen Stellen, aber es wird relativ wenig öffentlich kommuniziert. Das gehört wieder in den Vordergrund.

Rücksichtsvolle, umsichtige, gutmütige Menschen - ertrinken sie nicht im Meer von Egoisten? Ein praktisches Beispiel: Wenn ich im Straßenverkehr auf mein Vorfahrtsrecht verzichte, bedanken sich die anderen nicht, sondern nutzen es aus.

Ich glaube, dass ich mich nicht von anderen abhängig machen darf, indem ich nur das bediene, was die anderen mir anbieten. Wenn ich zu jemandem nett bin und der sagt nicht danke, darf ich nicht hinterherjammern. Ich würde nur meinen eigenen Stolz bedienen.

Ich sollte ihn genauso behandeln, wie er mich behandelt hat.

Nein, ich muss mich fragen: Hat er es nicht gelernt? Oder ist er geistig so beschäftigt, dass er dafür keine Zeit findet? Es gibt Gründe dafür. Aber, er kann es nur begreifen, wenn ich mich so verhalte, wie er sich verhalten könnte. Die Wahrheit und das Richtige muss ich nicht anbieten wie ein moralinsaurer Oberlehrer, sondern wie einen kuschlig-warmen Mantel im eisigen Winter.

Vielleicht ist sein Verhalten richtig. Was ist verkehrt daran, auch mal an sich zu denken?

An sich denken, ist nicht falsch. Ich soll den Nächsten so lieben, wie mich selbst. Wenn ich mich nicht liebe, kann ich den anderen nicht lieben. Aber ich darf die Liebe nicht auf mich begrenzen und mich nicht so lieben, dass ich den anderen nicht mehr lieben kann. Das ist der springende Punkt.

Wie gelingt das?

Ich muss das ins Gleichgewicht bringen. Ich muss den anderen als Bruder und Schwester verstehen, als jemanden, der auf mich angewiesen ist. So wie ich auf ihn. Wir Menschen können nur gemeinsam existieren. Nicht gegeneinander.

von: Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Ronja Goj
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