Raten mit AH-Effekt
Eine Urlaubsgeschichte aus dem Autostau
Die schönste Zeit des Jahres ist der Urlaub, wenn auch nicht unbedingt von Anfang an. Denn so sicher wie der Benzinpreis zu Beginn der Ferien nach oben klettert, kommt es auf den Autobahnen unvermeidlich zu Kilometer langen Staus. Die im Fünf-Minuten-Takt geäußerte Frage von Kindern, wann man denn endlich da sei, kann in solchen Momenten das Nervenkostüm der Eltern auf das Äußerste strapazieren. Wohl dem, der den Nachwuchs abzulenken weiß.
„Wollen wir Tier-Raten spielen?“, schlägt Frau Kern darum gleich zu Beginn (oder besser gesagt: am Ende) eines Staus vor. „Au prima“, begeistert sich Tim, mit sieben Jahren der jüngste Sprössling der Familie, der zwischen Opa und der großen Schwester eingeengt auf der Rückbank sitzt. „Ich fange an. Ein Tier mit A.“ Die ersten Antworten folgen schnell: Affe? Falsch! Ara? Falsch! Aasgeier? Auch falsch. Tim gluckst vor Vergnügen und beglückwünscht sich insgeheim zur Wahl seines Rätseltiers.
„Noch einen Buchstaben“, fordert Vater Kern vom Beifahrersitz, während seine Frau am Steuer ein Verkehrsschild studiert, das ein Autobahnkreuz ankündigt. „A 9?“, wendet sie sich an den Gatten. Doch die Antwort kommt von hinten: „Falsch, falsch, falsch!“ Und dann: „Mama, was ist das Aneun für ein Tier?“
Der nächste Buchstabe ist ein H. „Gibt es denn überhaupt Tiere mit A und H am Anfang“, fragt Opa nach einer Weile intensiven Nachdenkens. Obwohl er im Fernsehen nichts so liebt wie Tiersendungen, will ihm kein AH-Tier einfallen. „Natürlich!“ In Tims Antwort schwingt ein leichter Zweifel am Geisteszustand des Großvaters mit. Der Vater geht umsichtiger vor: „Aber das Tier lebt noch, ich meine, so richtig, in freier Wildbahn und so?“ Tim grinst: „Natürlich! Wir haben’s doch schon im Zoo gesehen.“
Wieder breitet sich Stille aus. Plötzlich brüllt Tim den Vater an: „He, das gilt nicht!“ Der errötet leicht und legt das Magazin, das noch vom letzten Zoobesuch stammt, ins Handschuhfach zurück. „Ist ja gut, ist ja gut“, beschwichtigt Herr Kern den aufgeregten Sohn.
„Also es lebt“, versucht Opa die Situation zu retten, „und es ist kein Dinosaurier?“ Trotz seines Altersvorsprungs will es der alte Herr nicht mit den Kenntnissen seines Enkels in Sachen prähistorischer Fauna aufnehmen. Er zeigt sich darum erleichtert, als Tim nickt und die Suche nach einem Wesen wie dem Diplodocus Hallorum, nur eben mit AH am Anfang, gar nicht erst versucht werden muss.
„Die nächsten Buchstaben sind wahrscheinlich X und Y.“ Mutter Kern freut sich trotz des scharfen Tons über den unerwarteten Gesprächsbeitrag ihrer Tochter. Seit dem Wechsel zum Gymnasium hält es Sabine für unter ihrem Niveau, mit dem kleinen Bruder hochgeistig zu verkehren. Der jedoch zeigt sich unbeeindruckt. „Nein“, sagt er, „nicht X und Y, es sind R und M. Jetzt müsst ihr es aber wissen.“
Sein Optimismus scheint fehl am Platz, denn niemand antwortet. Vater Kern resigniert als Erster: „Okay, du hast gewonnen. Wie heißt das Tier?“ Tim steht der Triumpf ins Gesicht geschrieben: „Na, ganz einfach: Ahrmeisenbär!“ – Dem Rateteam fehlen die Worte. Nur Sabine macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube: „Du Depp!“ Bis auf Tim hat im Grunde niemand Einwände, aber die Gymnasiastin muss noch eins draufsetzen: „Armeisenbär wird ohne H geschrieben.“
Peter Weidemann, in: Pfarrbriefservice.de
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Text: Peter WeidemannIn: Pfarrbriefservice.de