Religion als Ressource

Wie Menschen widerstandsfähig werden

Die Resilienzforschung hat Schlüsselfaktoren herausgearbeitet, die Menschen widerstandsfähig machen: Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit. Die Religionen transportieren dieses Wissen in Worten und Riten schon immer mit sich.

Warum kommen einige Menschen mit Belastungen besser zurecht als andere? Diese Frage hat den Soziologen Aaron Antonowsky beschäftigt, als er die Lebensgeschichten von stark belasteten Frauen verglich. Er fragte sich, was einen Menschen gesund hält und ihm hilft, mit Krisen zurechtzukommen. Wer das kann, wird als resilient bezeichnet. Dieses Wort leitet sich aus dem Lateinischen ab: resilire bedeutet abprallen. Es wird auch in der Materialkunde verwendet und bedeutet Widerstandskraft und Elastizität. Bildhaft gesprochen meint es die Fähigkeit, an etwas nicht zu zerbrechen.

Diese Fähigkeit lässt sich erlernen, so wie ein Mensch auch schwimmen lernen kann. Und das Bild vom Schwimmen hat Antonowsky auf unsere Existenz übertragen: Das Leben ändert sich ständig, bietet permanent wechselnde Herausforderungen, und wir versuchen damit zurechtzukommen. So betrachtet, ist das Leben ein Fluss, und wir schwimmen darin.

Wir schwimmen – immer!

Dieses Bild vom Leben ist durchaus beunruhigend, nicht nur für wasserscheue Menschen. Und doch ist es bei näherer Betrachtung ehrlich und klar. Niemand weiß, was der morgige Tag bringt, nicht für uns persönlich und nicht für uns als Gesellschaft. Unsere Sicherheiten sind brüchig, und auch noch so viele Versicherungen können uns nicht vor dem bewahren, was uns das Leben bringt. Im Sinne Antonowskys sollten wir weniger Versicherungen abschließen, sondern eher schwimmen lernen.

Menschen, die gut im Leben schwimmen, sind zuversichtlich: Sie können das, was auf sie zukommt, in der Regel einordnen und verstehen; sie sind überzeugt, dass man Schwierigkeiten bewältigen kann und dass es dazu die nötigen Mittel oder Ressourcen gibt bei einem selbst oder woanders; und sie spüren für sich, dass das eigene Leben eine Bedeutung hat und dass die Herausforderungen es wert sind, sich ihnen zu stellen.

Eine Haltung, die hält

Eine solche Haltung bejaht das Leben in seiner Unwägbarkeit und die darin liegenden Herausforderungen. Sie hilft uns in ruhigen Zeiten und hält uns über Wasser, wenn es turbulent wird. Das Wissen um diese lebensförderliche Haltung transportieren die Religionen schon immer mit sich. Sie können uns helfen, das Leben zu bejahen und gute Schwimmer zu werden. Damit ist Religion mehr als eine von vielen Ressourcen, die wir bei Bedarf aktivieren und nutzen können. Religion ist das Einüben einer Haltung, die das Leben verstehbar, bewältigbar und sinnhaft werden lässt.

Verstehbarkeit

Solange das Hochwasser des Nil für die Menschen in Ägypten eine in unregelmäßigen Abständen wiederkehrende Überschwemmung ist, bleibt es gefährlich und lebensbedrohlich. Wenn man um seine regelmäßige Wiederkehr weiß, kann man es nutzen. Das Strukturieren der Zeit und ihrer Abläufe und das Sammeln und Verdichten von menschlichen Erfahrungen in ihrer ganzen Breite tragen wesentlich dazu bei, das Leben zu verstehen und mit ihm zurechtzukommen. Auch wenn in Zeiten von Kalendern und Uhren der kirchliche Jahreskreis und das Schlagen der Glocken an Bedeutung verloren haben, so bleibt die Religion als eine gewonnene Sammlung von Lebenserfahrungen wertvoll, um das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu erahnen und das eigene Leben und Erleben verstehen und einordnen zu können. Was wir erleben, haben andere vielleicht schon ähnlich erlebt und durchlitten, sie haben Wege gesucht und gefunden.

Bewältigbarkeit

Wenn uns kleine und große Herausforderungen begegnen und wir in Krisen geraten, ist es hilfreich,Vorbilder zu haben oder zu wissen, wo man sich Hilfe holen kann. Beides bietet die Kirche: von Jesus, der zeigt, wie man Liebe lebt, bis zu den Heiligengeschichten, von einer konkreten Beratung und Unterstützung in einer Notlage bis hin zu einem versöhnenden und heilsamen Umgang mit Verstrickungen in einem persönlichen Gespräch.

Bei den großen Herausforderungen kann uns Religion rituell begleiten: Der Beginn des Lebens in der Taufe, die Übergänge und das Erwachsenwerden bis hin zum Ende des Lebens und zur Trauer um Verstorbene – solche Übergänge gemeinsam und im verlässlichen Ritus zu begehen, stabilisiert und stützt uns.

Sinnhaftigkeit

Hier liegt die eigentliche Einladung der Religion. In starken Bildern zeigt sie uns, dass unser Leben Sinn und Bedeutung hat: Sich als Kind Gottes zu begreifen, lässt uns erahnen, wie sehr wir geliebt und gewollt sind, eingebettet in eine sehr große Familie der Kinder Gottes und damit Teil von etwas ganz Großem und Faszinierendem.

In der Geschichte von der Taufe Jesu öffnet sich der Himmel und eine Stimme erklingt: „Du bist mein geliebtes Kind, an Dir habe ich Gefallen gefunden!“ Aus diesem Zuspruch kann Jesus so leben, wie er gelebt hat. Dieser Zuspruch gilt auch uns, und die Einladung, dankbar und zuversichtlich, gütig und gut zu leben.

Geliebt, gewollt, gesegnet

Religion bewahrt uns nicht vor den Wellen und den Strudeln des Lebens, aber gerade dort kann sie sich bewähren. Letztlich kann sie uns zeigen, dass das Leben in seiner Gänze ein gutes ist, dass der Fluss uns nicht ängstigen muss, und dass wir zuversichtlich annehmen können, was uns das Leben bringt. Wir können das Leben bejahen, weil wir selbst Bejahte sind!

Poetischer hat es Jesaja vor 3.000 Jahren ausgedrückt:

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir!
Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort.
Denn ich, der HERR, bin dein Gott, ich, der Heilige Israels, bin dein Retter.
Ich habe Ägypten als Kaufpreis für dich gegeben, Kusch und Seba an deiner Stelle.
Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir!

Gerhard Wastl, Pastoralreferent
Quelle: Trialog, Pfarrmagazin des Pfarrverbandes Obergiesing, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Gerhard Wastl, Pastoralreferent, Quelle: Trialog, Pfarrmagazin des Pfarrverbandes Obergiesing
In: Pfarrbriefservice.de