„Trauer ist wie weggeblasen aus unserer Gesellschaft“

Ein Interview mit der Klinikseelsorgerin Graziella Augelli-Pöppel

Graziella Augelli-Pöppel (Jg. 1967) ist Pastoralreferentin und arbeitet seit 13 Jahren in der Krankenhausseelsorge am Leopoldina in Schweinfurt und in der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) sterbenskranker Menschen in der Region Main-Saale-Rhön. Sie begleitet Menschen in schweren Zeiten, wenn sie z.B. ein Kind oder den Partner verlieren oder wenn sie sich mit einer Krebserkrankung auseinandersetzen müssen. Ein Gespräch mit ihr über Trauer und einen guten Umgang damit.

Stellen Sie Veränderungen fest, wie Menschen mit Trauer umgehen?

Graziella Augelli-Pöppel: Ja. Ich würde es so zusammenfassen: Alles wird schneller. Das gilt auch für das Emotionale im Sinne von ‚Ich soll möglichst schnell wieder zurückkommen zur Normalität’. Ein Beispiel: Bei einer Fehlgeburt müssen die Eltern laut Gesetz nach drei Tagen wieder arbeiten. Es gibt Bereiche von Trauer, da sind mir die Schutzräume zu klein und die Öffentlichkeit erwartet ein schnelles Wieder-Funktionieren. Diese Beschleunigung empfinde ich als das Schrecklichste in der Trauer. Auch weil wir so vieles an Traditionen aufgeben, was durchaus zwei Seiten hat. Früher trug man ein Jahr lang Trauerkleidung. Das wollen heutzutage die Wenigsten. Zugegeben, es hat was für sich, wenn zu einer Beerdigung die Menschen in bunten Kleidern kommen. Aber so wird auch nicht mehr sichtbar, dass jemand in Trauer ist. Der Schutzraum fällt weg. Ich merke eine große Unsicherheit, sogar bei den Betroffenen, die sich fragen: Wie gehe ich jetzt damit um? Es ist ein Nicht-mehr-Erleben, wie das sein kann, jetzt in Trauer zu sein. Trauer ist wie weggeblasen aus unserer Gesellschaft.

Weil man kaum mehr mit Menschen zu tun hat, die trauern?

Graziella Augelli-Pöppel: Ja. Eine Untersuchung stellte fest, dass man durchschnittlich alle zehn Jahre in der eigenen Verwandtschaft mit Tod und Trauer in Berührung kommt. Oft sind das Trauerfälle, die einem nicht so nahegehen. Da geht das normale Leben für einen selbst nach der Beerdigung wieder seinen normalen Gang. Anders als für die unmittelbar Betroffenen. Die Lebenswelt der Bibel zeigt ein anderes Trauermodell. Da sorgte die ganze Sippe ein Jahr lang für Trauernde. Heutzutage, wo viele nach einem genussvollen Leben streben, gerät das Thema Trauer unter die Räder.

Das heißt, unsere Gesellschaft vermeidet Trauer?

Graziella Augelli-Pöppel: Ja. Und ich finde das Ganze ein bisschen grotesk. Tod und Trauer spielen in den Filmen eine große Rolle. Aber in der eigenen Umwelt, da verhalten sich viele auch eher als Zuschauer und nicht wie Menschen, die fragen, wo sie Trauernden helfen können. Trauer ist ein Tabuthema, obwohl es in den Medien tagtäglich präsent ist.

Machen Sie die Erfahrung, dass Freunde und Angehörige den Trauernden ausweichen?

Graziella Augelli-Pöppel: Es herrscht eine große Unsicherheit. Mir erzählen Trauernde, vor allem Mütter, die ein Kind verloren haben, dass Menschen vor ihnen die Straßenseite wechseln, um sie bloß nicht ansprechen zu müssen. Oder ich höre von trauernden Müttern, dass sich sogar Geschwister zurückziehen, weil sie nicht wissen, wie sie mit dieser scheinbaren Ungerechtigkeit umgehen sollen, wenn die eigenen Kinder leben.

Warum verhalten sich Menschen so?

Graziella Augelli-Pöppel: Ich glaube, weil wir nicht mehr so nah dran sind an Tod und Sterben und weil uns der Tod dank medizinischer Fortschritte nicht mehr so häufig trifft. Der Weg zum Sterben bleibt oft allein in der Familie oder in professionellen Einrichtungen.

Der Tod wurde quasi ausgelagert aus der Öffentlichkeit.

Graziella Augelli-Pöppel: Fast. Ja. So erlebe ich das auch bei Trauernden, die häufig die Einstellung haben: Wir müssen das jetzt selber schaffen. Sie fühlen sich auf sich allein gestellt. Eine ältere Frau, deren Mann kürzlich gestorben ist, erzählte mir, dass je länger die Krankheit ihres Mannes dauerte, immer weniger Menschen nach ihm fragten. Wer nicht mehr auftaucht in der Öffentlichkeit, der verschwindet ganz schnell auch aus dem Bewusstsein.

Was macht das mit den Trauernden?

Graziella Augelli-Pöppel: Die fühlen sich allein gelassen.

Was wäre ein guter Weg, mit Trauer umzugehen?

Graziella Augelli-Pöppel: Das Wichtigste wäre für mich, dass Trauernde sich selbst sagen könnten: Ich muss das nicht allein schaffen. Ich darf mich nach Hilfe umschauen, sowohl nach mitmenschlicher Hilfe als auch nach fachlicher Hilfe. Es wäre viel gewonnen, wenn sich Betroffene trauten zu sagen: Unsere Situation ist jetzt so, wir brauchen Hilfe. Oft bemerke ich aber eine Scheu bei den Betroffenen, nach außen zu treten. Wir brauchen viel mehr Solidarität untereinander.

Wie können Angehörige, Freunde oder Bekannte trauernden Menschen helfen?

Graziella Augelli-Pöppel: Das A und O ist das Nachfragen: Was brauchst du im Moment? Das können ganz praktische Dinge sein, wie z.B. das Rasenmähen, oder auch eine Stunde Zeit fürs Reden und Zuhören. Wichtig ist, sich immer wieder geduldig bei dem Trauernden zu melden und auch mit einem Nein leben zu können. Für Trauernde ist ein Rückzug erstmal normal, sie sind manchmal nicht in der Lage, den Finger zu heben. Wichtig ist auch das Wissen um die Zeit. Es gibt eine erste, heftige Trauerzeit, in der der Schmerz das Vordergründigste ist mit Weinen, Klagen und Rückzug. Irgendwann wird dieser Schmerz kleiner und das Erinnern bleibt wichtig. Das Drüber-reden-dürfen, das Namen-aussprechen-dürfen, das Über-die-Erinnerungen-reden-dürfen – das wird dann was ganz Entscheidendes für Trauernde und für Begleiter. Es geht darum, die Zeit zu würdigen, die war. Wichtig ist, das zuzulassen, auch nach einem Jahr oder länger.

Welches Angebot machen Sie als Klinikseelsorgerin?

Graziella Augelli-Pöppel: Wir sind für die Patienten und für die Angehörigen da, für ihre Fragen, Ängste und Zweifel, für die Zeit im Krankenhaus, aber auch danach. Als hilfreich erfahre ich unsere Rituale, wie den Segen, die Krankensalbung oder das Aussegnen nach dem Versterben. Rituale lassen begreifen, was ist, und schenken Kraft zum Weitergehen. Wir bieten im Krankenhaus Gedenkgottesdienste an mit der Möglichkeit zu Gesprächen. Speziell für verwaiste Eltern gibt es einen halbjährlichen Trauerkreis und am Welttag verstorbener Kinder im Dezember einen Candle-Light-Gottesdienst in einer Kirche in Schweinfurt.

Welche Erfahrungen machen Sie damit?

Graziella Augelli-Pöppel: Bei diesem Gottesdienst ist eine große Bandbreite an Eltern da, von aktuell Betroffenen bis zu Menschen, deren Schicksal Jahrzehnte zurückliegt. Zum Teil sind 80jährige dabei, die vor 60 Jahren ihr Kind noch vor der Geburt verloren haben, was zu betrauern damals aber nicht möglich war. Die Besucherzahlen wachsen jährlich. Es ist wie ein Forum für die Erinnerung an das verstorbene Kind. Was den Trauerkreis angeht, stellen wir alle, die Trauerkreise begleiten, eher einen Rückgang fest.

Warum?

Graziella Augelli-Pöppel: Das ist uns nicht ganz klar. Vielleicht liegt es daran, sich nicht für ein halbes Jahr mit monatlichen Treffen binden zu wollen. Ich hör auch immer wieder von Trauernden: Ich will nach vorne schauen. Sie geben sich selbst diese Zeit zum Trauern nicht mehr. Ein weiterer Grund könnte sein, dass man mit Trauer oft nur Traurigkeit verbindet. Dabei ist Trauerarbeit Lebensarbeit. Es geht darum, dieses Leben wieder zu entdecken und zu spüren und nicht ein halbes Jahr lang vor sich hin zu weinen. Vielleicht ist da gerade in der jüngeren Generation die Angst, von uns auf einen Dauerschmerz verpflichtet zu werden. Vielleicht gibt es auch die Illusion: Wenn man nicht hinschaut, geht es schneller. Dabei wird die Trauer nur durch das Trauern weniger.

Aber die Menschen unterscheiden sich in der Art und Weise zu trauern. Nicht für jeden ist z.B. ein Trauerkreis geeignet.

Graziella Augelli-Pöppel: Das stimmt. Ich vertraue darauf, dass Trauer zu bewältigen ist und dass man das auch allein schaffen kann. Nur muss ich mir damit nicht bis zum Äußersten selber schwer tun.

Wie merke ich denn, dass es gut wäre, mir Hilfe zu holen?

Graziella Augelli-Pöppel: Wenn ich auf der Stelle trete, wenn sich meine Stimmung nicht bessert, wenn das Dunkle nicht heller wird. Dann empfehle ich, sich nach außen zu wenden und professionelle Hilfe einzufordern.

Interview: Elfriede Klauer, Pfarrbriefservice.de

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de