Über psychische Krankheiten reden – ein Tabu?

Ein Interview mit der ärztlichen Psychotherapeutin Dr. Uta Gregor

Als Erstes an Sie die Frage: Was ist überhaupt eine psychische Erkrankung?

Uta Gregor: Vielleicht sollte man besser fragen: Was ist Gesundheit? Freud hat es einmal so erklärt: Gesund ist man, wenn man arbeiten und lieben kann. Ich würde sagen: Krank ist ein Mensch, wenn er sich krank fühlt und in der Arbeit und den Beziehungen zu anderen Menschen beeinträchtigt ist.

In Deutschland erleidet jeder Dritte im Laufe seines Lebens eine seelische Krise, 2023 waren mehr als vier Millionen Menschen in psychologischer Behandlung. Warum tun sich Betroffene dennoch oft schwer, über ihre Erkrankung zu reden?

Uta Gregor: Ein psychisch Erkrankter kann nicht produktiv am Gemeinschaftsleben teilnehmen, er oder sie hat Angst vor den Reaktionen der Mitmenschen, vor Ausgrenzung. Besonders belastend ist es im Berufsleben, die Arbeit leidet, es entsteht eventuell ein Schaden für die Firma. Schnell hat der Kranke das Gefühl: Ich kann nichts, ich bin nichts, die Chefin mag mich nicht – er oder sie ergeht sich in Selbstvorwürfen und Minderwertigkeitsgefühlen, die das Ganze noch verschlimmern.

Warum reagieren manche Menschen nach wie vor negativ oder abwertend, wenn sie von der psychischen Krankheit eines Mitmenschen erfahren?

Uta Gregor: In Naturvölkern wurden oft Menschen, die anders waren, die eine Last darstellten, ausgegrenzt und zurückgelassen. Wir selbst kommen aus einer Welt, in der es üblich war zu sagen: Das kannst du nicht, so darfst du nicht sein, was sagt denn da der Nachbar… Manche Menschen agieren noch heute aus dieser Denkweise heraus. Zum anderen hat man aber auch schon bei Urmenschen-Funden festgestellt, dass Kranke behandelt, versorgt und mitgetragen wurden. Es stellt sich also für uns die Frage: Was ist ein für unsere Gemeinschaft produktiver Weg, mit psychisch Erkrankten umzugehen? Wie kann man zur Heilung verhelfen? Hier wäre zum Beispiel der Vorgesetzte gefragt, der Verständnis zeigt für die Kranke, ihr die Auszeit gibt, die diese braucht, und ihr vermittelt: Du bist wertvoll für unseren Betrieb und wir freuen uns, wenn du gesund zurückkommst.

In meiner 35jährigen Tätigkeit als Therapeutin habe ich erlebt, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit psychischen Erkrankungen insgesamt positiv entwickelt hat. Das Wissen ist in breiten Kreisen heute ein ganz anderes als früher. Ein Grund dafür, dass sich mehr Menschen frühzeitig in Therapie begeben und schneller geheilt werden können – und leider damit auch die freien Therapieplätze rar sind.

Was kann jeder und jede von uns zur Offenheit im Umgang mit psychischen Krankheiten beitragen?

Uta Gregor: Ein erster Schritt ist die eigene Offenheit, das Interesse dafür, sich Wissen darüber anzueignen. Die Medien bieten dafür heute viel Gelegenheit. Also: Artikel darüber lesen, Vorträge besuchen, in der Familie, im Freundinnen oder Kollegenkreis darüber reden. Entscheidend ist vor allem, wie über solche Erkrankungen gesprochen wird – es sollte in jedem Fall in menschlich respektvollem Ton geschehen.

Wie könnte denn ein von einer Erkrankung Betroffener mit seinem Umfeld kommunizieren?

Uta Gregor: Er sollte überlegen, zu wem er Vertrauen hat, wem er sich öffnen möchte. Den richtigen Zeitpunkt wählen: Fühle ich mich selbst stark genug dafür, ist der oder die andere aufnahmebereit? Konkrete Tatsachen berichten, wie er sich fühlt, was er gerade jetzt braucht.

Wenn ich merke, ein Angehöriger, eine Freundin zeigt Anzeichen einer psychischen Krise – wie rede ich mit ihr oder ihm darüber?

Uta Gregor: Zuhören ist ganz wichtig. Und das Gespräch von vornherein zeitlich begrenzen, damit es nicht in unfruchtbares Jammern ausartet. Keinesfalls sofort Ratschläge geben, sondern konkret nachfragen: Was ist genau geschehen? Wie fühlt es sich an? Möchtest du, dass ich etwas dazu sage? Hast du selbst Lösungsideen? Sich trauen, von eigenem Erleben zu sprechen. Es ist oft erstaunlich, wie sehr Menschen bereit sind, über derlei Dinge zu reden, wenn eine Person den Anfang macht. Dafür ist natürlich nötig, sich selbst zu reflektieren, über eigene, auch seltsame Gefühle zu sprechen, die ältere Generation hat dies meist leider nicht gelernt. Gemeinsam kann man dann überlegen, ob und wo man sich fachlichen Rat einholen könnte.

Wer ist in solch einem Fall die erste Anlaufstelle?

Uta Gregor: Der Hausarzt, wenn man ihm diesbezüglich vertraut. Vor allem jüngere Ärzte und Ärztinnen kennen sich mittlerweile ganz gut aus, fragen auch bei körperlichen Beschwerden nach, ob sie vielleicht seelische Ursachen haben könnten. Sie kennen die wichtigsten Medikamente gegen Angststörungen oder Depression, stellen die eventuell nötige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus und wissen auch Adressen von Psychiatern oder Psychotherapeutinnen in der Umgebung. In schwereren Fällen und für eine weitere Medikamentierung oder längere Krankschreibung sind Psychiater zuständig, zum Ergründen der seelischen Ursachen und fürs Reden braucht es den Psychotherapeuten oder die Psychotherapeutin.

Immer wieder erlebt man viel Unwissen und Angst vor Psychopharmaka, vor psychiatrischen Kliniken.

Uta Gregor: Das ist oft historisch begründet. Früher gab es keine Medikamente für psychische Leiden, später musste man erst Erfahrungen damit machen. Heute sind Medikamente sehr gut erforscht und wirksam, sie ermöglichen oft ein normales, produktives Leben und sind für viele Menschen ein Segen. Auch psychiatrische Kliniken sind heute ganz anders als früher, es wird auf einen achtsamen Umgang mit den Patienten Wert gelegt und es gibt individuelle Angebote. Ich habe sehr erfreute Rückmeldungen von Patientinnen gehört.

Interview: Gabriele Wenng-Debert
Quelle: impulse. Magazin der Pfarrei St. Johann Baptist Gröbenzell, Sommer 2024, In: Pfarrbriefservice.de

Dr. Uta Gregor war viele Jahre als ärztliche Psychotherapeutin in Gröbenzell und Olching in eigener Praxis tätig.

Ein Tipp für die Veröffentlichung dieses Interviews:

Im Pfarrmagazin impulse wurde das Interview ergänzt durch einen Info-Kasten. Dieser enthielt Kontaktdaten zu lokalen Anlaufstellen für psychische Notfälle sowie den Hinweis auf weitere Adressen von Beratungsstellen oder Stellen zur Vermittlung von PsychiaterInnen oder PsychotherapeutInnen auf der Pfarreihomepage unter https://www.johann-baptist.de/index.php?id=155

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Text: Interview: Gabriele Wenng-Debert, Quelle: impulse. Magazin der Pfarrei St. Johann Baptist Gröbenzell, Sommer 2024
In: Pfarrbriefservice.de