Vergebung statt Scheidung
Ein Interview mit Projektleiter Erhard Scholl zu einer Studie über Vergebung bei Paaren
Die Zahlen sind alarmierend: Während vor fünfzig Jahren jeder zehnte Bund fürs Leben geschieden wurde, gehen heute rund 45 Prozent der geschlossenen Ehen in die Brüche. Obwohl die Gründe dafür vielfältig sind, glauben Eheberater und Therapeuten eine Hauptursache ausmachen zu können: „Viele Paare wissen einfach nicht, wie sie mit Verletzungen in der Beziehung umgehen sollen und wie Vergeben und Verzeihen gelingen können“, bringt es Erhard Scholl, langjähriger Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung Schweinfurt (Diözese Würzburg), auf den Punkt. Diese Erkenntnis war für den Bundesverband der Katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberaterinnen und -berater Anlass genug, eine Studie mit dem Titel „Vergeben und Verzeihen in Paarbeziehungen“ in Auftrag zu geben. Worum es in der Untersuchung geht, wie die ersten Ergebnisse aussehen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, erläutert Projektleiter Erhard Scholl im Interview.
Warum eine Studie zum Thema Vergebung?
Erhard Scholl: Das Thema Vergeben und Verzeihen nimmt in der täglichen Beratungsarbeit einfach sehr viel Raum ein. Etwa 60 Prozent der Paare suchen Hilfe, weil Verletzungen und Enttäuschungen ihre Beziehung belasten. Das Erschreckende dabei ist, dass viele gar nicht wissen, wie sie mit der Krise umgehen sollen. Der oder die Verletzte verschanzt sich in seiner Opferrolle, der „Täter“ bagatellisiert das Geschehen oder entzieht sich. Die Partner geraten so in eine Endlosschleife, aus der sie keinen Ausweg mehr finden. Am Ende stehen viele dann vor dem Scheidungsrichter – und das, obwohl sie eigentlich gar keine Scheidung wollen.
Die Studie untersucht nun erstmalig im deutschsprachigen Raum auf empirischer Basis, ob und wie Vergebung in der Partnerschaft gelingt. Eine Frage ist dabei auch, inwieweit der christliche Glaube einen Einfluss auf die individuelle Versöhnungsbereitschaft hat. Aus den Ergebnissen sollen dann Konsequenzen für Beratungstätigkeit, Pastoral und Erwachsenenbildung abgeleitet und ein Modulhandbuch für Berater erstellt werden.
Welche Ergebnisse hat die Studie bisher zutage gefördert?
Erhard Scholl: In der ersten Befragungsrunde wurden knapp 1400 Frauen und Männer befragt, die seit durchschnittlich 22 Jahren in einer festen Partnerschaft leben. Auffallend war, dass etwa 34 Prozent der Paare keine Strategie für den Krisenfall haben. Von denen, die eine Strategie haben, gaben etwa zehn Prozent destruktive Mechanismen wie Rückzug oder „Gleiches mit Gleichem vergelten“ als Reaktion an. Etwa acht Prozent suchen Zuflucht im Gebet, 35 Prozent setzen auf Deeskalation und gezielte Lösungsversuche wie Erkennen eigener Anteile, Gespräch, Aufeinanderzugehen. Zehn Prozent suchen das Gespräch mit Freunden, in einer Beratungsstelle oder mit einem Seelsorger.
Sind Paare mit einem christlichen Background versöhnungsbereiter als andere?
Erhard Scholl: Überraschenderweise konnten wir bei Paaren, deren Glauben sich in eher konventionellen Bahnen bewegt, in allen drei Befragungen wenig Korrelation mit der persönlichen Vergebungsbereitschaft feststellen. Menschen, in deren Leben der Glaube hingegen eine lebendige Rolle spielt, die miteinander im Gespräch sind und die christliche Elemente im Alltag zu leben versuchen, verstehen sich offenbar als Paar besser und haben zugleich eine höhere Bereitschaft zu verzeihen.
Was kann Kirche an dieser Stelle leisten?
Erhard Scholl: Die Kirche hat bereits ein super Angebot. In ihren Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen bekommen Paare in Krisensituationen eine fachlich kompetente Unterstützung mit einer hohen Aussicht auf Erfolg. Doch mit diesem Pfund wird viel zu wenig in der Öffentlichkeit gewuchert. Zudem: Kein Paar trennt sich leichtfertig, eine Scheidung ist sehr schmerzhaft. Anstatt permanent mit erhobenem Zeigefinger den Wert der Ehe als göttliches Gebot zu betonen, sollte Kirche das Bemühen vieler Paare anerkennen und deutlich machen, dass sie in den Beratungsstellen ganz konkrete Hilfestellungen anbietet, mit denen Krisen gemeistert werden können. Denn wo Vergebung gelingt, wird letztlich auch das Scheidungsrisiko gemindert.
Wie kann man denn einem Paar in der Krise konkret helfen?
Erhard Scholl: Voraussetzung ist, dass sich beide Partner auf einen Vergebungsprozess einlassen wollen. Der „Täter“ muss anerkennen, dass er – absichtlich oder unabsichtlich – einen Fehler begangen hat, und der „Verletzte“ muss bereit sein, sich aus seiner Opferrolle heraus zu begeben. Das erfordert von beiden Seiten viel Kraft und echte Bereitschaft. Leichter wird dies oft dadurch, dass in einer qualifizierten Beratung dafür gesorgt wird, dass jeder zu Wort kommt und man nicht in einer neuen Schleife gegenseitiger Vorwürfe landet. Schritt zwei ist die Frage nach den „guten Gründen“. Nur wenn ich den anderen verstehe, kann ich ihm auch vergeben. Wobei Verstehen nicht mit Zustimmung zu verwechseln ist. Zuletzt schließen die Partner eine konkrete Vereinbarung nach dem Motto: Wir verwandeln unsere Vorwürfe in Wünsche! So kann neues Vertrauen entstehen.
Können sich Paare bereits im Vorfeld für den Ernstfall rüsten?
Erhard Scholl: Es ist wissenschaftlich belegt, dass Paare, die eine gute Kommunikation pflegen, sich nicht nur besser verstehen, sondern auch im Krisenfall über ein besseres Handwerkszeug verfügen. Um Gesprächs- und Vergebungskompetenz sollte man sich also nicht erst im Konfliktfall bemühen, sondern bereits dann, wenn es gut läuft. Eine tolle Sache ist da beispielsweise das Kommunikationstraining KOMKOM, das in nur acht Übungseinheiten zu je zweieinhalb Stunden konkrete Hilfen an die Hand gibt, wie Meinungsverschiedenheiten fair und konstruktiv zu lösen sind.
Interview: Anja Legge
Quelle: Würzburger Katholisches Sonntagsblatt, Ausgabe Nr. 45/2015 vom 8. November 2015, In: Pfarrbriefservice.de
Überall in Deutschland gibt es Beratungsstellen der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL). Das Angebot ist kostenfrei und richtet sich an Menschen jeden Alters, Ehepaare und andere Formen des familiären Zusammenlebens. Die Beratung kann sowohl einmalig zur Information und Klärung von offenen Fragen als auch regelmäßig als Begleitung über einen längeren Zeitraum in Anspruch genommen werden. Mehr Infos gibt es im Internet unter http://katholische-eheberatung.de/.
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Text: Anja LeggeIn: Pfarrbriefservice.de