Dankbarkeit

Gedanken zu einer oft vergessenen Tugend

Einer alten Legende nach begegneten sich am Himmelstor zwei Damen. Sie stellten sich einander vor: „Ich bin die Dankbarkeit“ – „Ich bin die Liebe“. Beide bedauerten: „Schade, dass wir uns auf Erden nie begegneten, wir sind doch Zwillingsschwestern.“

Ja, es wäre in der Tat sonderbar, wenn sich Dankbarkeit und Liebe noch nie begegnet wären. Dabei gleichen sie sich doch wie ein Ei dem anderen. Wer wirklich liebt, der vergisst niemals, dankbar zu sein, und ein dankbarer Mensch ist immer ein liebender Mensch. Und doch kennen wir alle die große Enttäuschung und den nagenden Schmerz, wenn jemand, dem wir einmal unsere Liebe schenkten, sich daran nicht mehr erinnert, wenn er so tut, als hätte es diese Liebe entweder nie gegeben oder sie hätte für ihn keine Bedeutung gehabt. Man „denkt“ einfach nicht mehr daran, man „dankt“ es ihm nicht. „Denken“ und „Danken“ – beides scheint also nicht nur klanglich eng beieinander zu liegen. Daran erinnert uns Wolfgang von Goethe, wenn er meint: „Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns ein. Wie oft können wir jemandem begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne daran zu denken!“

Ein Beziehungsangebot

Ein dankbarer Mensch erkennt, dass der Mensch, dem er sich zu Dank verpflichtet fühlt, zu ihm eine Beziehung geknüpft hat. Dankbare Menschen reagieren auf dieses Beziehungsangebot und antworten darauf. Sie pflegen diese Beziehung. Wenn ich etwas pflege, so erinnere ich mich gerne an diese Beziehung und zeige dies in bestimmten Zeichen und Gesten. Dabei müssen diese Gesten nicht immer etwas Großes sein. Mögen sie noch so klein sein, sie sind für denjenigen, dem man sich dankbar gegenüber zeigt, unendlich kostbar.

Wie Goldstücke

In einer persönlichen Beratung wurde ich einmal Zeuge eines Gesprächs zwischen einer Mutter und ihren beiden erwachsenen Söhnen. Nach einer hitzigen Diskussion sagte sie plötzlich ihren etwas verdutzt dreinschauenden Söhnen: „Wenn ich meine Augen zumachen werde, dann werden sie euch beiden aufgehen!“ Vielleicht hatte sie Recht. Es trifft ja nicht selten zu, dass ich den wahren Wert eines Menschen erst dann erkenne, wenn es zu spät ist. Erst wenn jemand eine Lücke hinterlässt, vermisse ich plötzlich einen wertvollen Schatz. Dann muss ich mich fragen: „Wo hatte ich all die Jahre nur meine Augen, waren meine Ohren taub? Waren diese Menschen für mich so selbstverständlich? Habe ich die kostbare Zeit, die sie oft mit mir verbracht haben, nur so beiläufig registriert?“ Es gibt diese Menschen in unserem Alltag. Wir behandeln sie so, als ob sie Glasperlen wären, dabei sind sie echte Diamanten. Es sieht dann offensichtlich so aus, als ob sie für uns keinen großen Wert hätten, obwohl sie doch wahre Goldstücke sind.

Wahre Geschenke des Himmels

Ist es uns noch nie positiv aufgefallen, dass sie in unserer Gegenwart noch nie negativ aufgefallen sind? Dabei muss das, was diese Menschen für uns bereithalten, gar nichts Großes, gar nichts Besonderes sein! Viele Menschen um uns herum wissen es selber nicht, wie wichtig es ist, dass sie einfach nur für uns da sind. Sie wissen nicht, wie gut es tut, sie einfach nur zu sehen, ab und zu ein Wort mit ihnen zu reden. Sie wissen nicht, wie tröstlich ihr Lächeln auf uns wirkt und wie ihr Lachen uns über manchen stressigen Tag hinweghilft. Sie ahnen nicht, wie wohltuend ihre Nähe ist, ihre Wärme, einfach ihr ganzes Wesen. Viele können sich das einfach nicht vorstellen, dass sie wahre Geschenke des Himmels sind. Seltsam. Sie wüssten es, wenn wir es ihnen sagen würden – einfach so, zum Beispiel heute. Ich glaube, sie wären uns sehr dankbar.

Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe, In: Pfarrbriefservice.de

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Das Schwerpunktthema für Mai/Juni 2023

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Text: Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe
In: Pfarrbriefservice.de