Das Gespräch

„Die Welt ist schlecht. Ich hab mich damit abgefunden“, sagte er. Er – ihr neuer Nachbar. Der vor einer Weile einzog in eine kleine, nette Wohnung nebenan. Ein BWLer. Das waren doch die, mit den polierten, schnellen Autos, die auf der Überholspur Lichthupe gaben und drängelten. Die, mit den geschleckten Haarfrisuren, den Markenanzügen und den perfekt gebundenen Krawatten. Die abgebrühten, mit den eiskalten Herzen aus Münz-Kupfer. In deren Augen die Dollarzeichen blinkten. Aber dann zieht er ein in die Nachbarwohnung – der BWLer. Kommt mit einem Volvo-Kombi und einem Fahrrad. Fährt in der Regel Bus. Trägt bei jedem Wetter die kurzen Trainingshosen, die weißen Tennissocken, hochgezogen bis zur Wade. Seine Füße stecken in den blauen Adiletten. Und um den Oberkörper ist stets quer sein fesches Umhängebeutelchen geschnallt. Ein BWLer?

Sie kommen ins Gespräch. Er aus einer Akademikerfamilie. Sie aus einer mittelständischen Familie. Er BWLer. Sie Künstlerin. Er ökonomisch veranlagt. Sie sozial. Er pragmatisch. Sie emotional. Er mutig, unbeschwert. Sie ängstlich, verkopft. Er freiheitsliebend. Sie sich an alle Regeln haltend.  

Zwei Menschen – völlig verschieden. Verschieden aufgewachsen. Verschieden erzogen. Verschieden sozialisiert. Verschiedenes Umfeld. Verschiedene Lebensweisen. Verschiedene Ansichten. Verschiedene Meinungen. Verschiedene Welten. 

Sie reden oft miteinander, viel. Debattierten stundenlang. Ringen mit der Einstellung des anderen. Mit seinen Haltungen, Standpunkten. Seinen Werten, Normen. Ruhig, tolerant, offen, wertschätzend. Sie erklären sich einander ihre Welt. Setzen für einen Moment die Brille des anderen auf. Schauen mit seinen Augen. Tauchen ein in seine Welt. 

Lassen sich darauf ein. Lassen es zu. Nachzudenken, zu überlegen. Die eigene Weltsicht, das eigene Weltbild zu hinterfragen. Manchmal, da sehen sie es bestätigt. Untermauert, gefestigt, stabilisiert. Manchmal, da lassen sie es erschüttern, wackeln, zittern. Manchmal in sich zusammenfallen, einstürzen, zusammenbrechen. Und manchmal geben sie es auf, denken, bauen es neu. 

Nie geht es in ihren Gesprächen darum, an der eigenen Meinung festzuhalten. Nicht von ihr abzuweichen. Sich hinter ihr zu verschanzen wie hinter den Mauern einer festen, steinernen Burg. Es geht nicht darum, die Meinung des anderen zu Fall zu bringen, sie zu okkupieren. Den anderen zu überzeugen. Seine Meinung abzuwerten, um die eigene aufzuwerten. Es geht auch nicht darum, sich im Burggraben die Hände zu schütteln, sich zu einigen, einen Kompromiss zu finden.  

Es geht um das Gespräch. Um das Reden. Darum, sich zuzuhören. Und sich anrühren, sich berühren zu lassen von den Ansichten des anderen. Die eigene Welt zu verlassen. Sie mit anderen Augen zu sehen. Den eigenen Blick zu weiten. 

Nie wäre sie ihrem Nachbarn, diesem BWLer in ihrer Welt begegnet. In der sie lebt mit Menschen, die so denken, wie sie. Die gleiche Meinung, die gleiche Einstellung haben wie sie. Die gleichen Werte und Normen. Ihre eigene Welt, in der sie sich, in der sich alle bestätigt fühlen. In ihrer Art zu denken und zu handeln. 

„Die Welt ist gut. Ich will daran arbeiten, dass sie gut wird“, sagt sie zu ihm. Es ist nicht wichtig, ob sie Recht hat, ob er Recht hat. Es ist die offene Tür zur Nachbarwohnung, das Öffnen von Schubladen, das offene Gespräch, das Welten, das verschiedene Menschen miteinander verbindet.   

Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Ronja Goj
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