Das schöne schwere Miteinander: Eltern und Kinder

Auszüge aus einem Interview mit Hartmut von Hentig

(… ) von Hentig: Kinder zur Ordnung anhalten ist schwer – eine Sisyphusarbeit. Selten jedenfalls führt sie dazu, dass ein Kind gerne Ordnung macht. Und wenn das Kind Ordnung machen will, dann ist es seine und sieht nicht so aus wie unsere. Das kleine Kind tut, was es tun muss, es folgt seinen Trieben, den Reizungen seiner Sinne. Das Kind muss die Welt erkunden. Es wird nicht mehr alles in den Mund stecken, aber es probiert alles aus – und hinterlässt Chaos. Und die Aufgabe der Erwachsenen ist es zunächst, hinter ihm aufzuräumen. Sie dürfen das Chaos nicht zum Normalzustand werden lassen. Dann und nur dann wird das Kind irgendwann einsehen, dass die Ordnung doch eigentlich ganz brauchbar und schön ist – und es wird sich an ihrer Herstellung beteiligen.

ZEIT: Für Elternohren klingt das jetzt aber sehr zurückgelehnt!

von Hentig: Umgekehrt! Wer sich auf die Wohltaten der Ordnung beruft – sie ist so nützlich, sie schont die Dinge, sie sieht so gut aus –, der macht es sich bequem. Ordnung ist einerseits ein Schutz für die Dinge, die uns wertvoll sind: Man tritt nicht auf sie. Sie ist andererseits ein Dienst, den wir einander leisten. Wenn ich Schmutz hinterlasse, ärgern die anderen sich, und ich will sie doch nicht ärgern – also mach ich den Schmutz weg. Es ist nicht eine Frage der Dressur, es ist im Gegenteil eine der allmählich kommenden Einsicht. Also warte ich, bis es so weit ist. Das ist gut verstandener Rousseau!

ZEIT: Ich würde sagen: Es ist ein Höchstanspruch an die Langmut der Eltern!

von Hentig: Es geht nicht darum, dem Kind unsere Zwecke zu unterstellen und zu verlangen, dass es sie erfüllt. Es geht vielmehr darum, seine Zwecke zu respektieren, dann wird es, indem es erwachsen wird, auch unsere Zwecke achten.

ZEIT: Wie weit sollen wir also die Welt der Kinder beschützen, wie sehr dürfen wir eingreifen?

von Hentig: Ich weiß. Hier hätten die Eltern gern eine Tabelle. In Hunderten von Ratgebern findet man sie. Bei mir findet man nur den Rat: Beobachtet das Kind – und beobachtet euch selbst. Wie viel Selbstständigkeit haltet ihr aus? Erweitert den Spielraum allmählich. Das Sinnbild hierfür ist das Ställchen. Das Kind fängt an zu krabbeln; es wird jede Tischdecke herunterreißen; man grenzt seinen Bewegungsradius ein. Gibt man ihm keine Einfriedung, gefährdet es sich nicht nur, in vielen Fällen wird es gar kein Risiko eingehen: Es bleibt dann still sitzen, statt die Welt zu erkunden. Es ist eine Frage der allmählichen Öffnung des Geheges zur Welt. Weshalb wir in der Bielefelder Schule diese drei R erfunden haben …

ZEIT: Drei Regeln?

von Hentig: Drei Wörter, die mit R anfangen. Das erste R steht für: Reviere bilden. Das Kind muss wissen: Dies ist mein Ort, hierfür bin ich verantwortlich. Ich kann nicht verhindern, dass andere woanders lärmen oder Papier wegwerfen. Aber in meinem Revier kann ich es. Das zweite R steht in der Tat für: sich Regeln setzen. Also: nicht schon Regeln vorfinden, und die anderen wissen, wozu die gut sind, während sie mich nur peinigen. Regeln müssen gemacht werden, wenn man merkt, dass sie gebraucht werden. Welche Regel hätte verhindert, dass dieses Unglück passiert? Man macht die Regel unter dem Eindruck des Schadens, dann hält man sie auch ein. Man hält sie jedenfalls nicht ein, wenn sie nur die Nerven der Erwachsenen schonen sollen.

( .. )

ZEIT: Was wäre das dritte R?

von Hentig: Das dritte R sind Rituale. Weil man nicht alle Fragen, die täglich aufkommen, mit solchem Umstand beantworten kann. Ritual heißt: Das wird hier so gemacht, denn das ist erprobt. Wenn in der Laborschule vorgelesen wird, legen sich alle in einen Kreis mit dem Kopf in die Mitte, weil man sich einmal klar gemacht hat: Wenn jemand in einem Großraum mit normaler Stimme vorliest, dann bekommen die da hinten es nicht mit. Weshalb sich alle um die Mitte legen: basta. So wie wir uns jeden Morgen begrüßen, wie wir „danke“ und „bitte“ sagen. Rituale sind hier „gute und streng eingehaltene Gewohnheiten“ – es gibt ihrer nur ganz wenige. ..

Die Fragen stellte Susanne Mayer, erschienen in DIE ZEIT 49/2003

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Das Schwerpunktthema für Januar 2007

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Text: Susanne Mayer
In: Pfarrbriefservice.de