„An dem Druck bin ich schier verzweifelt“
Interview mit Denis B., der als junger Mensch einen Suizidversuch unternommen hat
Alle 47 Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch an Suizid und alle 4 Minuten versucht sich ein Mensch das Leben zu nehmen. Wir haben Denis B. (Name von der Redaktion geändert) getroffen, der im Alter von 18 Jahren so verzweifelt war, dass er einen Suizid-Versuch unternommen hat. Heute steht der inzwischen 46-jährige Familienvater mit beiden Beinen im Leben. Im Gespräch verrät er uns, was ihn damals bewegte und wie er heute darüber denkt.
Frage: Lieber Herr B., vielen Dank dass Sie bereit sind mit uns über dieses sehr persönliche Thema zu sprechen. Wie geht es Ihnen?
Denis B.: Danke der Nachfrage, mir geht es sehr gut. Das Wetter könnte vielleicht noch ein wenig besser sein (lacht), aber ich freue mich bereits auf den Sommerurlaub.
Frage: Das hört sich doch gut an. Wo geht es hin?
Denis B.: Zuerst mit meiner Frau und den drei Kindern an den Bodensee. Wir haben dort ein Ferienhaus gemietet und werden Badeurlaub mit ein wenig Kultur und Radfahren verbinden. Danach fahre ich für eine Woche mit Freunden in die Berge.
Frage: Was bedeutet für Sie Urlaub?
Denis B.: Urlaub ist für mich der Ausgleich zu meinem mit Arbeit und vielen anderen Beschäftigungen ausgefüllten Alltag. Außerdem tut es mir gut, einmal ganz entspannt woanders zu sein, an nichts denken zu müssen und mit mir lieben Menschen zusammen einfach in den Tag hinein zu leben.
Frage: Sie machen heute den Eindruck, ein aktiver und lebensfroher Mensch zu sein. Wie kamen Sie vor 28 Jahren dazu, nicht mehr leben zu wollen?
Denis B.: Wenn ich das so genau wüsste. Im Rückblick betrachtet war es wohl ein mehrjähriger Prozess, und viele Faktoren spielten eine Rolle. Ich tat mir als Jugendlicher schwer, ins Leben hineinzufinden, lebte sehr zurückgezogen und hatte wenig Freunde. Die Schule bedeutete für mich purer Stress – nicht wegen des Unterrrichts, den besuchte ich eigentlich recht gerne. Eher war es die völlige Überforderung durch zu viele Menschen an einem Ort. Ich merke heute noch, wie mich solche Situationen sehr anstrengen.
Frage: Nun, Sie waren zu dem Zeitpunkt Ihres Suizidversuchs doch fast mit der Schule fertig. Hatten Sie denn keine Hoffnung auf Besserung?
Denis B.: Nein. Zum einen steckte ich ja noch mittendrin und sah sozusagen den Ausgang nicht. Zum anderen befand ich mich in einem Sog dunkelgrauer Gedanken.
Frage: Können Sie uns diese Gedanken beschreiben?
Denis B.: Ich sah einfach keinen Sinn im Leben, in meiner Existenz. Vom Biologieunterricht blieb bei mir hängen, dass das Leben ein Ausleseverfahren im Konkurrenzkampf um knappe Ressourcen ist. Zudem sollten meine körperliche Konstitution und mein Verhalten vorherbestimmt sein durch Gene. Was mein Verstand mir da einsagte, machte sich wie ein Gift in der Tiefe meines Herzens breit: die irrige Vorstellung, ich sei letztlich ganz alleine und verloren in der Welt. Da blieb von dem Gott, an den ich in meinen glücklichen Kindertagen glaubte, immer weniger übrig.
Frage: Gab es denn nichts, wofür es sich lohnte zu kämpfen?
Denis B.: Wenig. Ich stamme aus einem Elternhaus des gehobenen Mittelstands, das heißt materiell gesehen fehlte es mir damals an nichts. Ich wurde von meinen Eltern in jeder Hinsicht gefördert und unterstützt. Ich sah jedoch keinen Studiengang, kein berufliches Ziel, das mir verlockend genug erschien um dafür hart zu arbeiten. Im zwischenmenschlichen Bereich dagegen war mir schnell alles zuviel, ich zog mich mit zunehmendem Alter zurück. Ich konnte mich auch selber kaum leiden. Die sozialen Kontakte fehlten mir ganz entscheidend, das ist mir im Nachhinein klar.
Frage: Wie haben Sie Ihre Freizeit zuhause zugebracht?
Denis B.: Ich wusste mich ziemlich gut alleine zu beschäftigen. Da war mein Heimcomputer, das Programmieren faszinierte mich, aber natürlich auch die ersten Computerspiele, die es in den Achtzigern gab. Außerdem habe ich viel gelesen, Musik gehört, mich außerdem durch Fernsehen und Kinofilme unterhalten.
Frage: Das klingt, als hätten Sie es sich im Elternhaus gemütlich eingerichtet.
Denis B.: Das kann man wohl so sagen. Ja, ich hatte wohl letztlich Angst davor nach draußen zu müssen. Zuhause im „warmen Nest“ hatte ich bereits alles. Gleichzeitig wusste ich, dass von mir unbedingt erwartet wird, hinaus in die Welt zu gehen und dort meinen Mann zu stehen. Vor allem mein Vater machte mir das immer wieder unmissverständlich klar.
Frage: Und diesen Druck haben Sie nicht ausgehalten?
Denis B.: Ich bin schier daran verzweifelt, ja.
Frage: Wann kamen Ihnen die ersten Gedanken an Suizid?
Denis B.: So genau weiß ich das nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass es mir eines Tages aufging wie ein Lichtblick. Suizid erschien mir als der Ausgang, als die Lösung für den enormen Druck unter dem ich stand. Anfangs hatte ich noch gewisse Skrupel darüber nachzudenken. Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mir meinen eigenen Tod als Erlösung von allem Leid ausmalte.
Frage: Haben Sie Ihre Gedanken anderen mitgeteilt?
Denis B.: Ja, ich erinnere mich an mehrere Gespräche mit meinen Eltern, in denen ich ihnen gesagt habe „Ich bringe mich um“. Mein Vater hat das offenbar nicht ernst genommen, er hat meist darüber gelacht. Bei meiner Mutter weiß ich nicht genau, wie es bei ihr ankam. Später, als ich mich nach geeigneten Suizidmethoden umschaute, sprach ich auch mit Mitschülern darüber.
Frage: Erinnern Sie sich noch an den Tag Ihres Suizid-Versuchs?
Denis B.: Ziemlich genau, ja. Ich suchte mir extra einen Tag aus, an dem lange niemand zuhause sein würde, so dass ich ungestört sterben konnte. Vormittags hatte ich nur vier Stunden Unterricht, die besuchte ich ganz normal, damit niemand Verdacht schöpfte. Wieder zuhause angekommen setzte ich meinen Entschluss in die Tat um. Mit einer Flasche Likör trank ich mir Mut an, danach leerte ich das Fläschchen mit dem Gift, welches ich mir bereits Wochen zuvor organisiert hatte.
Frage: Was passierte dann?
Denis B.: Ich erinnere mich noch, dass ich bitterlich weinte. Es war so eine Mischung aus Wut, Angst und Verzweiflung. Später wich diese einer tiefen Trauer darüber, dass ich meinem Leben ein solches Ende setzte. Schließlich legte mich in mein Bett und wartete auf den Tod.
Frage: Wie erging es Ihnen dabei?
Denis B.: Ich fühlte mich innerlich leer, und doch irgendwie ganz schwer. Ich spürte mein Herz wie wild klopfen. Ich hatte Angst vor der einsetzenden Wirkung des Gifts. Ich betete zu Gott, er möge jetzt entscheiden mich zu holen oder nicht. Es vergingen gefühlt Stunden, aber nichts geschah. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein. Am späten Nachmittag erwachte ich dann aus einem traumlosen Schlaf. Ich schaute mich um, spürte in mich hinein – alles fühlte sich ganz normal an. Der Tod wollte mich offenbar nicht.
Frage: Das muss für Sie wie ein Wunder gewesen sein, oder?
Denis B.: Naja, darüber kann man jetzt spekulieren (lacht). Für mich war es das, ganz klar. Ich hatte ja mit meinem Leben abgeschlossen und tatsächlich den letzten Schritt unternommen. Ich war mir ziemlich sicher: das Gift wirkt. Dass es das nicht tat, dafür habe ich zumindest keine rationale Erklärung.
Frage: Hat sich Ihr Leben danach verändert?
Denis B.: Zuerst einmal kaum, würde ich sagen. Ich litt über mehrere Jahre noch an Depressionen und hatte immer wieder auch Suizid-Gedanken. Zumindest aber holte ich während des Zivildienstes und danach in meinen „Twenties“ meine verpasste Jugend nach. Außerdem fand ich durch ein spirituelles Erlebnis zu einem reiferen Glauben.
Frage: … der Sie dann auch weiter getragen hat, nehme ich an.
Denis B.: Ja, das kann man schon so sagen. Wobei es später dann nochmal ziemlich trocken wurde. Meine Dreißiger habe ich spirituell gesehen als lange Wüstenzeit in Erinnerung. Erst als ich vierzig war, fand ich allmählich zu einem erwachseneren Glauben und zu einer positiven Lebenseinstellung. Das habe ich neben der einfühlsamen Begleitung durch meinen Psychotherapeuten auch lieben Mitmenschen zu verdanken, die mich während dieser Findungsphase ertragen und getragen haben: vor allem meiner Frau sowie guten Freunden und auch Kollegen.
Frage: Wie würden Sie heute reagieren, wenn Ihnen jemand sagt, er wolle sich umbringen?
Denis B.: Ich würde versuchen mit dem Menschen tiefer ins Gespräch zu kommen. Ich würde ihm zuhören, ihm das Gefühl geben ich nehme ihn ernst. Ich würde ihn fragen, was er genau vor hat. Und aus meiner eigenen inneren Gewissheit heraus würde ich versuchen ihn davon zu überzeugen: „es gibt Hilfe für Dich, die Du nur anzunehmen brauchst“.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Christian Schmitt, In: Pfarrbriefservice.de
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Dateigröße: 0,03 MB
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Text: Christian SchmittIn: Pfarrbriefservice.de