Den Esel anhalten

Achtsamkeit als spiritueller Weg

Nicht nur wer betet oder meditiert, macht oft die irritierende Erfahrung, wie innerlich unruhig er (oder sie) eigentlich ist. Der Blick nach innen zeigt die fast permanente Flut von Gedanken, Bildern und Gefühlen, der wir täglich selbst im Schlaf ausgesetzt sind. Ist Achtsamkeitspraxis der Weg zu mehr innerem Frieden und Glaubenstiefe?

Der Engel des Augenblicks

Die Geschichte von Bileam in der Bibel zeigt, wie wichtig es ist, sich des Augenblicks bewusst zu werden: Als sein Esel plötzlich stehenblieb, schlug Bileam genervt auf ihn ein. Er hatte es eilig und jetzt auch noch das: ein Esel, der nicht laufen wollte. Das viele Gold vor Augen, das ihm versprochen worden war, hinderte Bileam zu erkennen, was sein Esel sah: Ein Engel Gottes versperrte ihnen den Weg.

Der Esel ging zögernd weiter, zwängte sich an einer Wand entlang, um dem machtvollen Engel nicht ungebührlich nahe zu kommen. Bileams Fuß streifte die Wand, verklemmt sich schmerzhaft. Er gab seinem Esel einen weiteren harten Schlag. Nochmals versperrt der Engel den Weg. Dieses Mal legt sich der Esel hin. Da wurde Bileam böse und schlug den Esel immer und immer wieder. Plötzlich, zu seinem Erstaunen hörte er den Esel sprechen: Warum schlägst du mich? War ich dir jemals ungehorsam? Dann wurden Bileams Augen geöffnet, und auch er sah den Engel (Nacherzählung 4. Mose 22, 21-35).

Den auf dem spirituellen Auge blinden Seher Bileam und seinen Esel mit Durchblick kennen nicht nur Gottesdienstbesucher. Die Geschichte ist keine, die primär die negativen Auswirkungen der Geld- oder Goldgier anprangert. Sie erzählt als »Musterbeispiel narrativer Theologie« (Rüdiger Bartelmus) von »Achtsamkeit«, davon, wie wir den Engel des Augenblicks erkennen, wenn wir uns für ein waches und tieferes Sehen öffnen.

Leitbegriff religiöser Gegenwartskultur

Wie auch immer man die Bileam-Geschichte deutet, »Achtsamkeit« ist im letzten Jahrzehnt zu einem der Leitbegriffe religiöser Gegenwartskultur geworden. […] Beobachter erkennen bereits eine »Achtsamkeits-Revolution« (Alan Wallace, 2008), die wichtige soziale Bereiche von der Medizin über die Pädagogik bis zum alltäglichen Ess- und Kommunikationsverhalten zum Besseren verändern soll.

Eines der bekanntesten, medizinisch überprüften Angebote dazu verbirgt sich unter der kryptischen Abkürzung »MBSR«. Der amerikanische Biologe Jon Kabat-Zinn hat ein Mindfulness Based Stress Reduction Program entwickelt. Zu Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stress-Reduktion. Sein Einsatzgebiet ist die Burn-out-Vorsorge und -Behandlung. Acht Wochen lang üben »MBSRler« dazu täglich mindestens 45 Minuten meditatives Sitzen in Stille und die genaue Wahrnehmung ihres Verhaltens und ihrer Gefühle.

Christliche Spiritualität als bloße Stress-Reduktion?

Aber ist christliche Spiritualität nur Stress-Reduktion? Schlägt da nicht der Zeitgeist zu, der den Dauerdruck permanenter Konzentration in Schule und Beruf nun spirituell überhöhen will? »Spitz, pass auf!« jetzt auch in der Religion?

Wahr ist, wohl nie wurde im Alltag mehr geballte Aufmerksamkeit gefordert als im 21. Jahrhundert. Bereits das morgendliche Verlassen des Hauses ist im Berufsverkehr der Großstädte nur dann gefahrlos, wenn wir alle unsere sechs Sinne beisammenhaben. […] Dem steht aber eine andere Wirklichkeit gegenüber. […] Das meiste läuft automatisch nebenher, oder es erledigen möglichst schnell Maschinen für uns. Wir düsen im Eselsgalopp durchs Leben. Gerade in den kleinen Dingen handeln wir deswegen zunehmend bewusstlos.

Muss das so sein? Ist die Konstitution des Bewusstseins, vom Leben nur einen Bruchteil mitzubekommen, am Ende nicht menschlich?

Wie ich diese Fragen beantworte, hängt wesentlich von dem ab, was ich mir und meinen Mitmenschen zutraue. Es ist eine Frage meines Menschenbildes.

Christliche Meditations- und Exerzitienlehrer sind hier durchaus optimistisch. Die allermeisten sind sich einig: Die Bewusstheit, mit der wir unser Leben führen, ist veränderbar, ja sie will durch geistliche Übung verändert werden, wenn wir unser Leben in seiner gottgegebenen Qualität erfahren wollen.

Mit dem Augenblick in Berührung kommen

»Es ist notwendig, der Sache selbst zu begegnen«, so beschreibt Franziskaner-Pater Richard Rohr und Vordenker einer christlichen Achtsamkeitspraxis nüchtern diesen Erfahrungsansatz. »Menschen neigen dazu zu meinen, sie hätten eine Sache verstanden, wenn sie einer Vorstellung davon zugestimmt oder nicht zugestimmt haben. Dem ist nicht so, erfährt der Kontemplative.« »Pure Präsenz« ist dagegen Richard Rohrs Wort für die achtsame Begegnung mit sich und Gott - eine »alternative Weise, den Augenblick zu erkennen und mit ihm in Berührung zu kommen«.

Den Augenblick nicht bewerten

Dazu gehört ein zweiter wesentlicher Aspekt der Achtsamkeitspraxis: die Nichtbewertung dessen, was wahrgenommen wird. Wer sich genauer beobachtet, merkt, wir urteilen fast unentwegt: Die Pizza schmeckt gut oder nicht gut, die neue Kollegin ist nett oder unsympathisch. Bewerten gehört zu den Grundfähigkeiten des Menschen. Es ist notwendig, um sich in der Umwelt zu orientieren. Wer Achtsamkeit als meditativen Übungsweg im Alltag praktiziert, dem kann es somit nicht darum gehen, das Werten generell abzuwerten. Er übt vielmehr, seinen eigenen Wertungen auf die Schliche zu kommen. Das Ziel: ein Stück mehr unkommentiertes Leben. Denn viele der Urteile, die wir instinktiv und schnell sprechen, sind Vorverurteilungen gegen andere und gegenüber uns selbst. Achtsamkeitspraxis unterbricht diesen inneren Richter und ergänzt ihn durch einen wachen »inneren Zeugen« - durch die »Instanz« in uns, von der her wir wahrnehmen. Reines Gewahrsein ist ihr Potenzial.

Am ehesten lässt es vielleicht mit dem vergleichen, was viele kennen und für das die meisten leben: die Liebe. »Menschen, die verliebt sind oder ihre Liebe bewusst leben, beschreiben oft, dass ihre Wahrnehmung von der Welt dramatisch verändert erscheint. Sie sehen den geliebten Menschen plötzlich mit »anderen Augen«, die Umrisse der Welt erscheinen schärfer und klarer, das Leben hat lauter neue Farben«, so die Bestsellerautorin und buddhistische Achtsamkeitslehrerin Marie Mannschatz. »Durch die Liebe öffnen sich unsere Sinnesorgane. Liebe und geistliches Erwachen sind spürbar miteinander verbunden.«

Achtsamkeit in der Bibel

Und Jesus? In seiner liebevollen Hinwendung zu Gott und den Menschen lebte Jesus hochgradig achtsam. Viele Stellen im Neuen Testament atmen seinen Geist wacher Präsenz: Jesu Bitte »Bleibt hier und wachet mit mir« in Gethsemane ist ein Beispiel, wo dies auch sprachlich aufleuchtet. Und selbst wenn wir heute durch die biblische Forschung wissen, dass seine Aufforderung »Darum wachet, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde an dem der Herr kommt« (Matthäus 25, 13) ihren wesentlichen Sinn darin hatte, Christen auf die Ankunft des Reiches Gottes vorzubereiten, so beschreibt sie doch eine Grundhaltung christlicher Existenz in der Welt.

»So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein« (1. Thessalonicher 5, 6ff.). In der Nachfolge Jesu fordert auch Paulus Achtsamkeit. Er tut dies ausgerechnet in dem Kapitel, wo christliches Leben in seiner Gesamtheit als »ununterbrochenes Gebet« beschrieben wird. Wachen und Beten sind bei ihm die zwei Seiten der gleichen Bewegung zu Gott.

Was meint christliche Achtsamkeit?

Gibt es dann überhaupt einen Unterschied in der Übung der Achtsamkeit zwischen Buddhisten und Christen? Wohl keinen außer einem - und der ist entscheidend: Der Buddhist empfiehlt, in der Gegenwart zu leben. Christliche Spiritualität richtet sich auf das Leben in der Gegenwart als Gegenwart Gottes.

Die Achtsamkeitspraxis mit ihren Bestandteilen meditatives Innehalten, bewusstes Wahrnehmen und Nichtwerten bildet dann so etwas wie die Kernkompetenz aller authentischen geistlichen Übungswege. Egal, ob man meditiert, fastet, pilgert oder in der Bibel liest, wie aufmerksam und präsent ich das tue, entscheidet wesentlich mit über die Qualität des Wegs.

Gewahrsein wird dabei nicht allein durch unser Tun, sondern als Geschenk Gottes entdeckt und realisiert. Protestanten wissen das aus Erfahrung. Die Gnade ist da. Wir haben aber ein Wahrnehmungsproblem. Und gerade dann, wenn wir wieder im Bileam'schen Eselsgalopp durchs Leben düsen, erinnert Achtsamkeit uns daran, den Esel anzuhalten, abzusteigen und uns wach umzublicken. Die Chancen sind gut, einen Engel zu sehen.

Oliver Behrendt
Leiter „spirituelles zentrum im eckstein“, Beauftragter für geistliche Übung und Meditation – Evang.-Luth. Landeskirche in Bayern, www.spirituelles-zentrum-im-eckstein.de

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Das Schwerpunktthema für März 2012

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Text: Oliver Behrendt
In: Pfarrbriefservice.de