Der Geburtstag – Ein Fest des „Ich”?
Standpunkt von Onlineredakteur Christian Schmitt
Interessant, wie sehr wir den Geburtstag als selbstverständlich begreifen, als wäre er schon immer da gewesen – dieses kleine Fest rund um die eigene Person, das die meisten von uns jährlich zelebrieren, zumindest in den westlich geprägten Kulturkreisen. Dabei ist der Brauch, seinen Geburtstag zu feiern, noch gar nicht so alt. Erst die Neuzeit mit der Aufklärung brachte uns die Idee des Individualismus näher, und damit löste sich der Einzelne allmählich aus dem Kollektiv und rückte gleichzeitig mehr in den Mittelpunkt seiner persönlichen Lebenswelt. Denker wie John Locke bereiteten den Weg für das Konzept der individuellen Freiheit. Das Recht jedes einzelnen Menschen auf Leben, Selbstentfaltung und das Streben nach Glück – heute selbstverständliche Grundwerte unserer Gesellschaft – wurzelt tief in diesen Ideen.
An unserem Geburtstag dürfen wir Kerzen auspusten und uns etwas wünschen, das nur uns alleine gehört. Ein schöner Gedanke, nicht wahr? Ein kurzer Augenblick, der uns daran erinnert: „Du bist einzigartig und wertvoll. Wenn es dich nicht gäbe, man müsste dich erfinden.” – Es ist ein Tag, an dem sich alles um uns dreht, was sicherlich schön und wichtig ist. Doch habe ich den Eindruck, dass sich dieses Denken für viele über den Geburtstag hinaus erstreckt. Dass der Fokus auf das „Ich” den Blick für das große Ganze vernebelt. Da stellt sich mir eine größere Frage: Wie weit darf denn der Individualismus gehen? Klimawandel, Artensterben, soziale Ungleichheit, der ständige Druck, sich zu beweisen – all das sind auch Früchte einer Kultur, in der das „Ich“ oft über das „Wir“ gestellt wird. Konkurrenz und Ellenbogenmentalität tun ihr Übriges.
Vor diesem Hintergrund scheint mir das Fest des „Ich” symbolisch für einen grassierenden Narzissmus zu stehen, in dem der Mensch, ganz nach dem Trump-Motto „America first”, sich selbst der Nächste ist. Ein Beispiel: „Ich wollte schon immer mal nach XY [setzen Sie ein fernes Urlaubsziel Ihrer Wahl ein] reisen und da komme ich nur mit dem Flugzeug hin. Also fliege ich, auch wenn ich weiß, dass es der Umwelt schadet.” Weiteres Beispiel: „Ich kaufe mir das neue Smartphone, obwohl mein altes noch funktioniert – denn ich habe es mir verdient.” Auch hier steht das „Ich“ im Vordergrund, ohne die größeren Zusammenhänge zu beachten: Ressourcenverschwendung, Müll, Ausbeutung von Menschen in prekären Verhältnissen.
Das „Ich“ kann ohne das „Wir“ nur bedingt bestehen. Wir sind alle Teil eines größeren Netzwerks – mit anderen Menschen, der Natur und unseren Mitgeschöpfen. Was wir tun, wirkt sich nicht nur auf uns selbst aus, sondern auch auf unser persönliches Umfeld, auf die Gesellschaft, in der wir leben, und auf die Umwelt, die wir gemeinsam teilen. Jede Handlung, die auf unser eigenes Wohl zielt, hat direkte oder indirekte Auswirkungen auf andere – sei es durch den CO₂-Ausstoß einer Flugreise oder die Ressourcen für ein neues Smartphone. Und Veränderungen im Netzwerk wiederum bekommen auch wir zu spüren, positive wie negative.
Vielleicht sollten wir den Geburtstag anders denken – nicht nur als den Tag, der uns an unsere Einzigartigkeit erinnert, sondern auch als Anlass, über unsere Rolle in diesem Geflecht nachzudenken – über die Verantwortung, die wir für andere tragen. Wie wäre es also, wenn wir uns an diesem Tag nicht nur wünschen, dass unser eigenes Leben gelingt, sondern auch das Leben unserer Mitmenschen – oder gleich größer gedacht: dass alles Leben auf diesem Planeten gedeiht?
Die wahre Stärke des Individualismus scheint mir die Erkenntnis zu sein, dass unser „Ich“ nur im „Wir“ wirklich wachsen und sich entfalten kann. Und dass das „Ich” umgekehrt einen wichtigen Beitrag leisten kann zu einem gelingenden „Wir” – wenn es denn Verantwortung übernimmt. Von daher müsste die Überschrift hier vollständig lauten: Der Geburtstag: Ein Fest der Verbundenheit des „Ich“ im Lebensnetzwerk des „Wir“.
Christian Schmitt, In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Christian SchmittIn: Pfarrbriefservice.de