Der Jahresrückblick
Eine Geschichte
Er war in den letzten Augusttagen im Sternzeichen der Jungfrau geboren und von Natur aus pingelig und überaus korrekt.
Jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr setzte er sich mit einer Kanne Tee mit Rum in sein Arbeitszimmer, spitzte einen roten Stift für seine berufliche Jahresbilanz und einen grünen für seine private Bilanz. Dann nahm er zwei Bögen kariertes Papier, schrieb BERUF auf das eine Blatt, unterstrich das Wort akribisch genau mit einem Lineal und machte dasselbe mit dem zweiten Blatt, nur dass er da PRIVAT eintrug.
Heute hatte er das Gefühl, dass er in diesem Jahr lange an seiner Bilanz sitzen würde, denn in diesem Jahr hatten tiefgreifende Änderungen sein Leben beeinflusst.
Als Versicherungsvertreter einer renommierten Versicherung hatte er seinem Konzern einen guten Dienst erwiesen. Er hatte sich die Füße wund gelaufen, sich Fransen an den Mund geredet und in der Tat unzählige Versicherungsverträge zum Abschluss gebracht. Die Menschen wollten in einer unsicheren Zeit gegen alles versichert sein. Und er hatte die rhetorische Gabe, jeden Zweifel auszuräumen, alle Bedenken zu zerstreuen und Fragen sicher zu beantworten. Und zum Abschluss eines zustande gekommenen Vertrages hatten sich seine Kunden immer herzlich bedankt, nachdem sie ihn während eines Beratungsgespräches fürstlich bewirtet hatten. Seine Firma hatte ihn mit einer großzügigen Prämie zum Jahresende bedacht.
Er war stolz auf sich. Der Papierbogen mit der beruflichen Bilanz verzeichnete am Ende ein dickes rotes Plus und er lehnte sich zufrieden zurück.
Sich seiner privaten Bilanz zu stellen, kostete ihn einige Überwindung. So sehr er auch seine Kunden überzeugen konnte, zu Hause war er eher der Schweigsame und Zugeknöpfte. Abends war er meist hundemüde, wenn er nach Hause kam. Er wusste, wie oft seine Familie vergebens mit dem Abendessen auf ihn gewartet hatte. Aber Kundengespräche ließen sich zeitlich nicht exakt terminieren. Er hatte zu wenig Zeit für seine Familie gehabt. Und so nahm er es hin, dass seine Frau mit den Kindern, die ihm immer mehr fremd wurden, auszog.
Um sich seiner Trauer nicht zu sehr stellen zu müssen, arbeitete er noch mehr. Die stillen Abende zu Hause konnte er nicht ertragen. Er gab sich die Schuld am Scheitern seiner Ehe und bezahlte einen großzügigen Unterhalt für seine Familie.
Anfangs kamen seine Kinder immer noch am Wochenende zu ihm, aber sie hatten keine Lust, ständig bei ihrem Vater zu sitzen. Sie wollten auch mit ihren Freunden zusammen sein und das ging oft nur am Wochenende. Es tat ihm weh, aber er verstand es.
Die gemeinsamen Freunde zogen sich nach und nach zurück. Er wusste, dass sie lieber mit seiner lebenslustigen und offenen Frau zusammen waren. Das nahm er hin. Schließlich wollte er auch nicht zwischen zwei Stühlen sitzen.
Nachdem er im Herbst nach einem Kreislaufkollaps ins Krankenhaus gekommen war, hatten die Ärzte nach eingehenden Untersuchungen ein Burn-out festgestellt und ihm eine Auszeit angeraten. Was sollte er alleine zu Hause?
Er hatte sich zwei Wochen Urlaub gegönnt, hatte sich unter Palmen am Meer ausgeruht und war wieder arbeiten gegangen. Seine Blutfettwerte, der erhöhte Blutdruck und seine Fettleber hatten sich sicher im Urlaub auch erholt, glaubte er.
Heiligabend hatte er mit einem verwitweten Bekannten verbracht, der auch nichts mit sich anzufangen wusste, und Silvester würde er sich mit einem guten Buch ins Bett legen.
Und dann kam das neue Jahr mit neuen Herausforderungen und neuen Aufgaben.
Die Freude über seine positive berufliche Bilanz verblasste sehr schnell, als er vor dem Desaster seines Privatlebens stand. Er starrte auf das Blatt mit der grünen Schrift, bis die Tränen, die seine Wangen hinunterliefen, die Schrift verschleierten.
Er suchte die Nummer seines Hausarztes heraus und wollte gleich morgen früh telefonisch um einen Termin bitten. Er würde sich krankschreiben lassen, so lange, bis er den Kampf um seine Ehe und Familie gewonnen hatte.
Das war sein einziger und felsenfester Vorsatz für das neue Jahr.
Gaby Bessen, In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Gaby BessenIn: Pfarrbriefservice.de