Der verhaftete Friedensengel

Eine (Nach-)Weihnachtsgeschichte

Als die Engel den Lobgesang über den Feldern beendet hatten und sich wieder zurückzogen in die unsichtbare Welt, da ließ sich einer von ihnen ganz still zur Erde sinken. Er war nämlich neugierig, wollte mit eigenen Augen sehen, was da geschehen war. Er ahnte allerdings nicht, was ihm geschehen würde. Zunächst hüllte er sich in die Gestalt eines Menschen, um so wie ein Mensch das Geheimnis der Weihnacht sehen zu können, hören und riechen zu können. Doch als er in das Tor von Bethlehem trat, wurde er von römischen Soldaten angehalten. Einer von ihnen fragte den merkwürdigen Einzelgänger nach seinem Ausweis.

 

„Meinen Ausweis?“ fragte dieser erstaunt. „Ich habe keinen und brauche auch keinen, ich weiß doch, wer ich bin.“ Dabei richtete er sich ein wenig auf, so dass seine verborgene Erhabenheit zu spüren war. Schnell sank er wieder zusammen, als plötzlich fremde Hände seinen Leib abtasteten und seine Taschen durchsuchten. „Nichts“, sagten die Männer erstaunt, „keinen Ausweis, keine Waffen, kein Geld.“ „Nichts?“ fragte der Anführer der Truppe. „Wir nehmen ihn trotzdem mit. Er ist verhaftet.“

So wurde der Engel an beiden Armen ziemlich kräftig gepackt und abgeführt. Er wunderte sich über die Härte des menschlichen Griffes, denn Engel führen ja behutsam und mit Respekt. Er lächelte vor sich hin. Er war ja in der Nähe des Kindes. Darum wusste er: Er musste sich nicht fürchten.

Im Verhör

Im Wachlokal führten die Soldaten ihn dem Kommandanten vor. Sie berichteten ihm, wo sie ihn angehalten hatten und was ihnen an ihm verdächtig vorgekommen war. Der Kommandant blickte ihn scharf an und begann sein Verhör: „Wie heisst du?“ Er antwortete: „Ich bin ein Sohn des Friedens.“

Der Kommandant befahl dem Schreiber: „Name: Ben-Shalom.“ Dann fragte er: „Woher kommst du?“

Der Engel antwortete: „Ich komme aus dem Reich des Lichts.“

Der andere erwiderte: „Hm. Also von Sonnenaufgang.“

Der Engel meinte: „Man kann es auch so sagen.“

Der Kommandant diktierte: „Schreibe: aus dem Osten.“ Dann fuhr er fort: „Du bist also von jenseits unserer Grenzen?“

Der Engel: „Allerdings, von sehr jenseits eurer Grenzen. Und überhaupt: Eure Grenzziehungen, die gelten für uns nicht. Wir sind überall.“ Der Kommandant kniff die Augen zusammen: „Aha, das ist sehr aufschlussreich. Seid ihr viele?“

Der Engel erwiderte: „Ja, sogar sehr viele. Nur wissen das nur wenige bei euch.“ Darauf der andere: „Wir werden bald mehr darüber wissen“, und dem Schreiber befahl er: „Schreibe: einer von vielen, noch unbekannten feindlichen Kundschaftern aus dem Osten, die unsere Grenzen nicht anerkennen.“ Der Engel protestierte: „Nein, nicht feindlich, um Himmels willen. Was von uns her kommt, ist alles andere als feindlich.“ Der Wachkommandant wies zurecht: „Mir kannst du nichts vormachen. Ich weiß, wer Freund und wer Feind ist. Im Übrigen hast du mir nichts zu erklären… sondern nur zu antworten! Man hat dich also geschickt?“ Der Engel fasste neuen Mut: „Ja. Ich bin ein Bote.“ Der Kommandant griff rasch nach: „So, du gibst es also zu? Und wie lautet dein Auftrag?“

Der Engel wurde verlegen. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass es seine eigene Entscheidung gewesen war, auf der Erde zu bleiben – einen Auftrag dazu hatte er nicht. Der andere merkte, dass er zögerte und fragte noch einmal: „Wie lautet dein Auftrag?“

Der Engel antwortete: „Ich sollte mich in der Gegend von Bethlehem einfinden und dort mit Menschen des Friedens Verbindung aufnehmen. Alles Weitere würde sich von selbst ergeben.“

Einer von „weit oben“

Der Wachkommandant dachte nach: „Man scheint dir große Freiheit bei deinem Auftrag zu lassen. Du musst einer von weit oben sein.“ Dann befahl er dem Schreiber: „Schreibe: Die Gegend um Bethlehem ist Zentrum feindlicher Tätigkeiten. Es werden Spitzenleute eingesetzt.“ Der Engel war etwas verwirrt: Von „weit oben“ hatte er gesagt. Da hatte er recht – aber auch nicht recht. Denn Engel sind eigentlich nur Dienstboten, Dienstboten Gottes. Der Kommandant ging zur Tür und gab dem wachhabenden Soldaten einen kurzen Befehl. Kurz darauf kam dieser zurück und brachte einige andere Gefangene mit.

 

Der Kommandant stellte sie dem Engel gegenüber und fragte: „Kennst du diese Männer?“

Der Engel sah sie an und erkannte sie. Sie waren alles geliebte Geschöpfe Gottes, die er, als Engel, eine zeitlang begleitet hatte. Er nickte: „Ja, ich kenne sie. Sie stehen mir sehr nahe.“ Dann fragte der Vorgesetzte einen nach dem anderen: „Kennst du den da?“ Alle schüttelten den Kopf und sagten: „Nein, den habe ich noch nie gesehen.“ Der Kommandant trat vor den Engel hin: „Du kennst sie, aber sie kennen dich nicht. Du hast sie überwacht. Nicht wahr!“

„Nicht überwacht, behütet“, korrigierte der Engel. Aber der andere winkte ab: „Mir brauchst du nichts vorzumachen. Ich bin im Bilde. Da passt alles zusammen.“ Er griff das Blatt des Schreibers und überflog es: „Du gibst also zu: Du bist Ben-Shalom, stammst aus einem feindlichen Land im Osten, respektierst unsere Grenzen nicht, bist einer von vielen, die uns ausspionieren, und du solltest Leute in dieser Gegend überwachen, um sie für eure Sache zu gewinnen. Das reicht.“

 

Der Engel erschrak. So also tönte sein himmlischer Auftrag aus dem Mund eines Irdischen. Es waren schon irgendwie seine Worte, aber es klang ganz anders als es war. Warum waren seine Worte nicht recht angekommen? Warum begriffen die Irdischen die Wahrheit nicht? Im Himmel war alles immer ganz klar. Ein Wort war klar. Es ruhte in sich und hatte seine innere Wahrheit. Aber hier auf der Erde fiel die Wahrheit wie ein Vogel ungeschützt aus dem Nest und wurde zertreten. Man konnte auf Erden dem Wort nicht unbedingt trauen.

Der Friede fängt ganz klein an

Dem Engel war plötzlich unheimlich zumute. Er sehnte sich nach der himmlischen Klarheit. Am liebsten hätte er sofort seine menschliche Gestalt abgestreift und sich den Soldaten in seinem himmlischen Glanz gezeigt. Ha, die würden vor Ehrfurcht erzittern! Da aber hörte er ganz leise eine vertraute Stimme in seinem Herzen, die sagte: „Bleib, wie du bist. Du musst ihnen nahe sein und sie verstehen lernen. Der Friede fängt ganz klein, ganz unten an.“ Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Als er erwachte, lag er in einer Zelle auf einem Strohhaufen. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Aber er erinnerte sich verschwommen an einen wilden Traum, den er gehabt hatte. Da war ein Mann gewesen, der neben einer Krippe schlief. Den hatte er geweckt und ihn gedrängt, mit Frau und Kind sofort diesen Ort zu verlassen und nach Ägypten zu fliehen. Da betrat ein Soldat die Zelle und rief: „Aufstehen, zum Kommandanten!“ Als er sich aufgerappelt hatte, schob ihn der Soldat grob vor sich her. Es war diesmal ein anderer Kommandant, der ihn erwartete. Der Engel spürte sofort: Dieser hatte mehr zu sagen und wirkte auch klüger. „So,“ sagte er und blätterte in den Papieren. „Du bist also ein Bote. Ganz von oben.“ Beide nickten einander schweigen zu. Dann fuhr er fort: „Was ist genau deine Aufgabe?“ „Ich soll dem Frieden dienen. Das ist alles, was ich will“, antwortete der Engel. Der Kommandant erwiderte: „Das wollen wir auch. Wir vertreten überall in der Welt den römischen Frieden. Wir können Leute von deiner Art gut gebrauchen. Wenn du in unsere Dienste trittst, bist du sofort frei.“ Der Engel hob abwehrend die Hände: „Ihr breitet euren Frieden mit Gewalt aus, mit Soldaten, mit Waffen. Das ist nicht unsre Art.“ Der Kommandant überlegte: „Gut, vielleicht kämpfst du mit anderen Mitteln. Aber im Grunde kommt es auf dasselbe heraus. Ihr habt doch auch Heere und Waffen?“ Der Engel stutzte. „Ja, das haben wir, aber unser Heer und unsere Waffen sind von geistlicher Art. Sie schaden nicht, sie heilen.“

Der Kommandant wurde ärgerlich: „Du bist nicht nur ein Spion, sondern auch ein Spinner. Du verstehst nichts von dieser Welt und was hier zählt. Mit geistlichen Waffen für den Frieden kämpfen! Ha!“ Der Engel blieb ruhig: „Wenn du willst, kann ich auch dir unseren Frieden geben.“ „Gib ihn lieber meinen Soldaten“, sagte der Kommandant zynisch, „gib ihnen Frieden ins Herz, damit sie tapferer kämpfen und tapferer sterben.“ „Nein,“ widersprach der Engel, so ist der Friede nicht. Er macht, dass wir die Waffen niederlegen und auch den Feinden die Hand reichen. Euer Friede bringt Leid und Tod, der Friede von oben bringt Leben.“

„Du bist ein unverbesserlicher Narr“, grollte der Kommandant. Und dann rief er: „Wegführen. Noch heute Nacht soll er sterben.“ Der Engel wusste nicht, wie ihm geschah. Doch bevor er weggeführt wurde, trat er vor den Kommandanten und küsste ihn auf die Stirn und lächelte dabei.

Offen für den Himmel

Als er wieder auf dem Stroh in der Zelle lag, dachte der Engel lange nach über seine missglückte Mission und es machte ihn traurig, dass die Menschen nicht verstanden, was ihnen wirklich zum Frieden dient. „Warum lässt du es nicht endlich Frieden werden“, seufzte er zum Himmel hinauf. Und wieder hörte er die leise Stimme: „Der Friede fällt nicht vom Himmel. Er kommt durch Menschen, die den Ruf des Friedenskindes gehört haben und ihm folgen. Durch Menschen, die ihr Herz für den Himmel geöffnet haben.“

 

In der letzten Stunde dieser Nacht führten sie ihn hinaus. Einige Soldaten trugen ein Schwert. Es war kein Mensch zu sehen und kein Himmlischer zu spüren. Als sie aus dem Tor hinaustraten, sah er in der Morgendämmerung einen Mann, der neben einem Esel ging. Auf dem Esel saß eine Frau, die ihr Kind in den Armen hielt. Die Soldaten beachteten sie nicht. Der Engel aber spürte eine große Freude im Herzen und hörte die vertraute Stimme des Kindes sagen: „Hab keine Angst. Geh tapfer weiter. Der Friede kommt. Er ist schon unterwegs.“

Pfr. Andreas Geister, Uznach, Schweiz (inspiriert von einer Legende von W. Reiser), gefunden bei OJC, ökumenische Kommunität in der evangelischen Kirche, www.ojc.de. In: Pfarrbriefservice.de

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Das Schwerpunktthema für Dezember 2015 und Januar 2016

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Text: Pfr. Andreas Geister
In: Pfarrbriefservice.de