„Die Selbstoptimierung ist ein Religionsersatz geworden, wenn es darum geht die eigene Identität oder den Sinn im Leben zu finden.“
Ein Interview mit Dr. Christoph Augner
Dr. Christoph Augner ist Psychologe und Hochschullehrer. Bereits 2020 hat er das Buch „Selbstoptimierung ist auch keine Lösung“ geschrieben. Im Interview erklärt er, was Christopher Columbus mit Selbstoptimierung zu tun hat. Was passiert, wenn ein Wirtschaftsansatz auf den Menschen übertragen wird. Und warum Influencer die neuen Götter sind.
Beim Joggen die Zeiten messen, um die eigene Leistung zu verbessern. Die Ernährung in einer App tracken, um gesünder zu leben. Im Job performen, um bei den Kollegen mithalten zu können. Besser, besser, besser werden. Selbstoptimierung. Die Gesellschaft, das Leben, der Alltag, sie scheinen durchdrungen von ihr. Was macht das mit den Menschen?
Dr. Augner: Ich bin nie am Ende. Es geht immer weiter. Ich erreiche leider nicht einmal einen Punkt, der wirklich zufriedenstellend ist, denn dann gibt es unmittelbar das nächste Ziel.
Veränderung scheint in dieser Zeit das einzige Credo, das einzige Dogma, die einzige Maxime zu sein.
Ein zentraler Aspekt bei der Optimierung ist, dass die Veränderung alles ist. Das ist ein Zeitgeistphänomen. Da gibt es diese wunderbaren Zitate dazu: „Das einzig beständige, ist die Veränderung." In jedem Vortrag findet sich das. Damit werfen die Leute um sich. Sich verändern zu müssen, ist ein Wert an sich.
Aber, wenn es in der Menschheitsgeschichte keine Veränderung, keine Weiterentwicklung gegeben hätte, würden die Menschen heute noch Bäume mit Äxten fällen.
Große Innovationen, viele Erfindungen sind daraus entstanden, dass Leute Probleme, Themen lösen wollten. Dass Menschen etwas tausendmal probiert haben, bis plötzlich etwas entstanden ist, was wirklich den Nutzen gebracht hat. Aber nicht dadurch, dass sie gesagt haben, dass es das Wichtigste ist, sich ständig verändern und weiterentwickeln zu müssen. Deshalb hat sich Columbus nicht in das Schiff gesetzt.
Das bedeutet?
Die Veränderung an sich als Wert zu sehen, das kennt die Menschheitsgeschichte erst sehr spät. Nur etwas zu verändern, um es zu verändern, damit kommen die Menschen nicht weiter.
Aber warum wollen sich die Menschen dann ständig verändern, weiterentwickeln, verbessern? Wo liegen die Wurzeln der Selbstoptimierung?
Das Thema „Optimierung“ kommt speziell aus der Wirtschaft des 19. Jahrhunderts. Aus dem Ansatz des „scientific management“. Da haben die Menschen begonnen die Arbeitskräfte möglichst effizient einzusetzen. Es ist damals schon darüber gesprochen worden, wie viel ein Arbeiter zum Beispiel essen sollte, damit er die beste Leistung bringt. Damals war in Diskussion, dass es Pausen geben sollte, damit die Leistung besser wird.
Scientific Management – dieser Ansatz von damals scheint sehr aktuell.
Lustigerweise sind viele der Dinge, die am Ende des 19. Jahrhunderts passiert sind sehr ähnlich zu dem, wie wir uns heute in der Freizeit organisieren. Es sind Diskussionen, die sehr an diese Optimierungsdiskussion von heute andocken.
Aber ist es sinnvoll wirtschaftliche Systeme auf den Menschen zu übertragen?
Ich denke im Wesentlichen ist das Scientific Management in der Wirtschaft gut aufgehoben, auch wenn man es kritisieren kann. Es ist jedoch die Tendenz da, dass die Menschen dieses Konzept auf Lebensbereiche übersetzen, in denen ein effizienterer Mitteleinsatz wenig sinnvoll ist und in die das nicht passt. Und das wird den Menschen nur schwer bewusst, weil die Fehler, die dabei entstehen, nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind.
Zum Beispiel?
In der Kindererziehung, in der Pädagogik, im Freizeitbereich. Da wird es schwierig.
Warum machen die Menschen das? Kam irgendjemand irgendwann auf die Idee, dass sich alle Menschen in allen Bereichen permanent selbst verbessern sollten?
Ich denke, wir leben in einer sehr ökonomisierten Gesellschaft und daraus hat sich ein Primat der Ökonomie ergeben. Die Ökonomie ist bei den Wertvorstellungen auf höchster Stufe. Das hat eine enorme Kraft und entfaltet sich auf andere Lebensbereiche. Ökonomie arbeitet viel mit quantifizierbaren Zahlen, Daten, Fakten. Das ist sexy. Sie können Fortschritte beim Sport sehen und schnell messen.
Die Menschen leben heute in einer Gesellschaft, die sehr frei, sehr liberal ist. In der es keine starren Regeln, Vorgaben mehr gibt, keine Tabus. Damit fehlen Stützen, Pfeiler im Leben, die Orientierung geben und Halt. Übernimmt das heute die Selbstoptimierung?
Wenn ich mich an Zahlen, Daten, Fakten in den verschiedensten Lebensbereichen orientiere zur Kindererziehung, zu meinem eigenen Freizeitverhalten, zu meiner Arbeit, zum Sport, habe ich einen vorgezeichneten Weg. Wenn ich im Smartphone die vielen Fitnessapps aufmache, weiß ich immer: Wo bin ich jetzt? Wo muss ich hin? Der Weg ist vorgezeichnet. Das gibt Orientierung in unserer Gesellschaft, die sich sonst dadurch auszeichnet, dass sie unglaublich heterogen, widersprüchlich ist.
Früher hat die Religion Normen, Werte vorgegeben, festgelegt. Heute haben viele keinen Bezug mehr dazu. Können sich nicht mehr damit identifizieren.
Gott als Norm, das hat sich verändert. Diese Norm war früher etwas, das sehr schwer zu erreichen war. Die Selbstoptimierung ist ein bisschen ein Religionsersatz geworden, wenn es darum geht die eigene Identität oder den Sinn im Leben zu finden. Das ist sehr viel leichter zugänglich, als religiöse Dinge, die weniger leicht greifbar sind.
Und die Grundlage, die Basis dieser neuen Religion ist der Vergleich mit anderen.
Heute ist es so, dass wir uns daran halten müssen, was andere tun. Dass wir uns an anderen Menschen orientieren und uns mit anderen Menschen vergleichen. Wir sind eine Vergleichsgesellschaft geworden. Wir haben diese Vergleichsorientierung.
Wer ist der neue Gott? Wer gibt die Normen vor?
Influencer sind jene, die Normen vorgeben. Sie vermitteln ein Idealbild, eine Idealvorstellung. Der Unterschied ist, dass es weniger Toleranz gibt, wenn ich die Norm nicht erreiche. In der Religion gibt es Mechanismen. Im christlichen Weltbild gibt es die Vergebung. Ich kann mich entschuldigen, ich kann um Vergebung bitten, auch bei schweren Vergehen. Das kann ich heute nicht mehr. Hier gibt es keine Entschuldigung, sondern jeder ist seines Glückes Schmied und verfolgt den Weg und wenn ich das nicht schaffe, bin ich ein Looser.
Eine extreme Entwicklung. Angenommen dieser Zug der Selbstoptimierung fährt immer weiter. Immer schneller. Optimiert sich immer stärker. Wird er irgendwann entgleisen?
Da müsste ich in die Zukunft sehen können. Es ist schwer zu sagen, wie das ausgeht, weil solche Entwicklungen nicht linear sind. Es kann passieren, dass immer mehr Bereiche optimiert werden. Ich glaube, dass die Bedeutung von Technologien in den verschiedensten Bereichen der Optimierung zunehmen wird und dass sie sich ein stückweit vom Menschen abkoppelt. Sodass der Mensch selbst nicht mehr optimiert werden muss. Das wäre denkbar.
Wäre auch denkbar, dass die Selbstoptimierung jemals wieder endet?
Zum Teil gibt es eine Gegenbewegung. Ich denke zum Beispiel an die Vereinigten Staaten, wo es diesen Trend zum Digitalen Minimalismus gibt. Wo die Menschen Technologie plötzlich wieder so wenig wie möglich nutzen möchten. Das sind alles zarte Pflänzchen, aber man kann nicht voraussehen, ob das tatsächlich ein echter Hype wird. Ob es modern wird, diese ganzen Selbstoptimierungs-Apps nicht mehr zu haben und diese technischen Errungenschaften nicht mehr mit sich herumzutragen. Das ist natürlich auch möglich.
Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Ronja GojIn: Pfarrbriefservice.de