Die sieben Werke der Barmherzigkeit für heute
Barmherzigkeit hat in den unterschiedlichen Zeiten immer auch eine unterschiedliche Ausprägung gehabt. In einer Welt ohne Bestattungsinstitute war es ein Werk der Barmherzigkeit, Tote zu begraben. Aus einem Werk der Barmherzigkeit wurde später dann eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Inzwischen – angesichts der hohen Preise für eine Beerdigung – ist es schon wieder ein Werk der Barmherzigkeit, auch Hartz-IV-Empfängern ein würdiges und erschwingliches Begräbnis zu ermöglichen.
Ohne Zweifel bleiben die klassischen sieben Werke der Barmherzigkeit zeitlos in Geltung: etwa Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Tote bestatten, oder die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit wie belehren, raten, trösten und zurechtweisen.
Doch die Gestalt der Barmherzigkeit wandelt sich. Wie könnte Barmherzigkeit heute aussehen, in einer Gesellschaft, in der soziale Absicherung und Fürsorge weithin vom Staat garantiert werden?
Ich habe einmal im Vorfeld des heutigen Tages Menschen befragen lassen, was sie heute unter Barmherzigkeit verstehen. Gemeindemitglieder, Caritasmitarbeiter, Diakone haben Leute befragt, die sich in einer Notsituation befinden. Die Frage lautete: "Welches Werk der Barmherzigkeit wäre aus ihrer Sicht heute besonders notwendig?" Es kamen interessante und bedenkenswerte Antworten, für die ich an dieser Stelle herzlich danke – denen, die sich als Fragesteller zur Verfügung gestellt haben, aber auch besonders jenen, die auf diese Fragen geantwortet haben. Die Antworten sind eingeflossen in die Formulierung von sieben Werken der Barmherzigkeit für Thüringen heute. Die Formulierung dieser sieben Werke der Barmherzigkeit stammt nicht von mir. Sie ist ein Gemeinschaftswerk – und darum sind diese sieben Werke heutiger Barmherzigkeit für mich besonders wertvoll und überzeugend.
Am Beginn des Elisabethjahres möchte ich diese, aus dem Empfinden unserer Gegenwart heraus formulierten Werke dem ganzen Bistum vorstellen, sie gleichsam für das nun anbrechende Elisabethjahr proklamieren. Also – sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute:
1. Einem Menschen sagen: Du gehörst dazu.
Was unsere Gesellschaft oft kalt und unbarmherzig macht, ist die Tatsache, dass in ihr Menschen an den Rand gedrückt werden: die Arbeitslosen, die Ungeborenen, die psychisch Kranken, die Ausländer usw. Das Signal, auf welche Weise auch immer ausgesendet: "Du bist kein Außenseiter!" - "Du gehörst zu uns!" – z. B. auch zu unserer Pfarrgemeinde – das ist ein sehr aktuelles Werk der Barmherzigkeit.
2. Ich höre dir zu.
Eine oft gehörte und geäußerte Bitte lautet: "Hab doch einmal etwas Zeit für mich!"; "Ich bin so allein!"; "Niemand hört mir zu!" Die Hektik des modernen Lebens, die Ökonomisierung von Pflege und Sozialleistungen zwingt zu möglichst schnellem und effektivem Handeln. Es fehlt oft – gegen den Willen der Hilfeleistenden – die Zeit, einem anderen einfach einmal zuzuhören. Zeit haben, zuhören können – ein Werk der Barmherzigkeit, paradoxerweise gerade im Zeitalter technisch perfekter, hochmoderner Kommunikation so dringlich wie nie zuvor!
3. Ich rede gut über dich.
Jeder hat das schon selbst erfahren: In einem Gespräch, einer Sitzung, einer Besprechung – da gibt es Leute, die zunächst einmal das Gute und Positive am anderen, an einem Sachverhalt, an einer Herausforderung sehen. Natürlich: Man muss auch manchmal den Finger auf Wunden legen, Kritik üben und Widerstand anmelden. Was heute freilich oft fehlt, ist die Hochschätzung des anderen, ein grundsätzliches Wohlwollen für ihn und seine Anliegen und die Achtung seiner Person. Gut über den anderen reden – ob nicht auch Kirchenkritiker manchmal barmherziger sein könnten?
4. Ich gehe ein Stück mit dir.
Vielen ist mit einem guten Rat allein nicht geholfen. Es bedarf in der komplizierten Welt von heute oft einer Anfangshilfe, gleichsam eines Mitgehens der ersten Schritte, bis der andere Mut und Kraft hat, allein weiterzugehen. Das Signal dieses Werkes der Barmherzigkeit lautet: "Du schaffst das! Komm, ich helfe dir beim Anfangen!" Unsere Sozialarbeiter der Caritas wissen, wovon ich rede.
Aber es geht hier nicht nur um soziale Hilfestellung. Es geht um Menschen, bei denen vielleicht der Wunsch da ist, Gott zu suchen. Sie brauchen Menschen, die ihnen Rede und Antwort stehen und die ein Stück des möglichen Glaubensweges mit ihnen mitgehen.
5. Ich teile mit dir.
Es wird auch in Zukunft keine vollkommene Gerechtigkeit auf Erden geben. Es braucht Hilfe für jene, die sich selbst nicht helfen können. Das Teilen von Geld und Gaben, von Möglichkeiten und Chancen wird in einer Welt noch so perfekter Fürsorge notwendig bleiben. Ebenso gewinnt die alte Spruchweisheit gerade angesichts wachsender gesellschaftlicher Anonymität neues Gewicht: "Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude!"
6. Ich besuche dich.
Meine Erfahrung ist: Den anderen in seinem Zuhause aufsuchen ist besser, als darauf warten, dass er zu mir kommt. Der Besuch schafft Gemeinschaft. Er holt den anderen dort ab, wo er sich sicher und stark fühlt. Die Besuchskultur in unseren Pfarrgemeinden ist sehr kostbar. Lassen wir sie nicht abreißen! Gehen wir auch auf jene zu, die nicht zu uns gehören. Sie gehören Gott, das sollte uns genügen.
7. Ich bete für dich.
Wer für andere betet, schaut auf sie mit anderen Augen. Er begegnet ihnen anders. Auch Nichtchristen sind dankbar, wenn für sie gebetet wird. Ein Ort in der Stadt, im Dorf, wo regelmäßig und stellvertretend alle Bewohner in das fürbittende Gebet eingeschlossen werden, die Lebenden und die Toten – das ist ein Segen. Sag es als Mutter, als Vater deinem Kind: Ich bete für dich! Tun wir es füreinander, gerade dort, wo es Spannungen gibt, wo Beziehungen brüchig werden, wo Worte nichts mehr ausrichten. Gottes Barmherzigkeit ist größer als unsere Ratlosigkeit und Trauer.
Bischof Joachim Wanke
Aus seiner Predigt zur Eröffnung des Elisabeth-Jahres im Bistum Erfurt, 18. November 2006. Quelle: www.bistum-erfurt.de
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Text: Bischof Joachim WankeIn: Pfarrbriefservice.de