Die Unvollkommenheit akzeptieren

Ermutigung für Eltern

Nicht allein Kinder brauchen Ermutigung – das gilt gleichermaßen für die Eltern.

Kinder sind genaue Beobachter ihrer Eltern. Sie spüren deren vergebliche Versuche, fehlerfrei zu erziehen, alles im Griff zu haben. Nach meiner Beobachtung wollen Eltern ein Problem nicht nur lösen. Sie wollen es perfekt lösen. Manche streben den pädagogischen Oscar an und nehmen dabei fast jede Anstrengung in Kauf, suchen nach dem Rezept für ihr Problem und verwechseln dabei Kindererziehung mit Kochen.

Aber da sie solche Unvollkommenheit schlecht ertragen, suchen sie nach Sündenböcken für das alltägliche Scheitern – und die sind schnell und zahlreich zur Hand: die Politik, die Gesellschaft, die Schule, die Lehrer, der Kindergarten, die Erzieherinnen. Und können diese nicht als Sündenböcke herangezogen werden, weil sie den Heranwachsenden förderliche Rahmenbedingungen bieten, bleibt immer noch jemand übrig: das Kind, das den Eltern jeden Tag den Spiegel vorhält, in dem sie die eigenen Mängel erblicken. Und je perfekter die Eltern sein wollen, umso unerbittlicher hält ihnen das Kind den Spiegel vor. Eltern halten diese Konfrontation oft nicht aus, und so projizieren sie eigene Fehler auf die Kinder nach dem Motto: “Wenn du dich besser verhalten würdest, müsste ich dich nicht anschreien, bestrafen, reglementieren.”

Die perfekten Eltern

Statt nach einem nicht zu erreichenden Perfektionismus zu streben, käme es vielmehr auf den Mut zur Unvollkommenheit an, denn Unvollkommenheit ist menschlich. Unvollkommenheit macht unverwechselbar, zeigt Kindern, wie Eltern an sich arbeiten, sich entwickeln. Eltern sollten ihre Schwächen und Fehler akzeptieren, zumal andere Menschen sie gerade wegen dieser Eigenschaften mögen. Der schmerzhafte Abschied vom Perfektionismus bringt gleichzeitig die entlastende Einsicht, dass Erziehung kein planbarer Prozess ist.

Das Leben mit Kindern ist voll von Spontaneität, die Intuition erfordert. Da jedes Kind, jedes Familienleben einmalig ist, bietet jeder Tag etwas Neues, Überraschendes. Manchmal wirken pädagogische Überlegungen, ohne dass man weiß, warum. Ein anderes Mal, und in derselben Situation, kochen die Wogen hoch, obwohl alle Zutaten stimmten. Erziehung ist eine gestaltende Kraft, der eine Ordnung innewohnt. Aber nicht immer weiß man, wie diese Ordnung funktioniert, warum pädagogische Maßnahmen bei dem einen Kind Früchte tragen, beim anderen nicht! Diese Art Ordnung ist mithin nur das halbe Leben, die andere Hälfte ist das Chaos. Und so, wie man lernt, Ordnung zu akzeptieren, so kann man lernen, sich mit dem Chaos zu arrangieren. Das macht möglicherweise Angst, aber wer solche Unsicherheiten aushält, wer akzeptiert, dass Unvollkommenheit zum Leben und zur Erziehung gehört, der hat den Kopf frei, sich auf Neues einzulassen.

Dr. Jan-Uwe Rogge
Quelle: www.jan-uwe-rogge.de, In: Pfarrbriefservice.de

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Das Schwerpunktthema für Juni 2017

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