„Drei gefüllte Mülltonnen genießbarer Lebensmittel werfen wir pro Sekunde weg“
Ein Interview mit David Jans vom foodsharing e.V.
Im Interview: David Jans, 35 Jahre alt und stellvertretender Vorsitzender des Vereins foodsharing e.V. Ein Gespräch über virtuelle Bananen, Foodsaver und einen Kinofilm.
313 kg Essen werfen wir in Deutschland in jeder Sekunde in den Müll. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des WWF.
Das sind drei gefüllte Mülltonnen genießbare Lebensmittel pro Sekunde. Das kann man sich fast nicht vorstellen. Wir produzieren Lebensmittel für 12 Milliarden Menschen. Das würde für alle Menschen dicke reichen, aber leider sind die Lebensmittel falsch verteilt und Menschen müssen Hunger leiden. Mit unserer Art zu wirtschaften und zu konsumieren entziehen wir vielen Menschen die Lebensgrundlage, weil wir für unseren Markt teilweise in Ländern anbauen, in denen Menschen hungern. Und die Lebensmittel, die wir dort anbauen, werfen wir dann hier wieder zu großen Teilen weg, das sind völlig absurde Züge.
Selbst die Vereinten Nationen haben in ihrem Nachhaltigkeitssiegel festgelegt, dass die Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbiert werden muss.
Ja, aber es wird aktuell fast nichts gemacht, damit wir diese Ziele auch erreichen können. Dabei sind wir alle in der Pflicht. Wir müssen jetzt reagieren, wir stehen sozusagen mit dem Rücken zur Wand.
Sie tun bereits etwas. Sie sind stellvertretender Vorsitzender des Vereins foodsharing e.V. Eine Initiative, die 2012 entstanden ist und die sich vehement gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt.
Foodsharing möchte das Thema Lebensmittelverschwendung in den Fokus der Gesellschaft rücken. Es geht uns um die Wertschätzung von Lebensmitteln, darum retten wir Lebensmittel und geben diese kostenlos weiter. Der foodsharing e.V. hat seinen Sitz in Köln. Das ist ein kleines Vorstandsteam von aktuell neun Leuten. In der Praxis ist foodsharing aber ein großes bundesweites Freiwilligennetzwerk. Es gibt überall dort Ortsgruppen, wo Menschen Lust haben und motiviert sind, sich zu engagieren. Aktuell sind circa 40.000 Foodsaver mit dabei.
Foodsaver sind Essensretter. Wie lassen sich Lebensmittel retten?
Ganz einfach. Wenn ich als Privatperson Essen teilen möchte, dann gehe ich auf die Seite foodsharing.de und kann mich kostenlos registrieren. Dort stelle ich einen virtuellen Essenskorb ein und diesen virtuellen Essenkorb kann ich mit anderen Leuten teilen.
Und wie wird aus der virtuellen Banane im virtuellen Essenskorb eine leckere reale Banane?
Wenn ich zum Beispiel fünf Bananen übrig habe, aber morgen spontan in den Urlaub fahre, dann kann ich sie in den virtuellen Essenskorb legen und fragen, wer Interesse hat. Vielleicht schreibt jemand, „Hey, cool, ich komme schnell vorbeigeradelt und hole die fünf Bananen ab.“
Und dann sind die Lebensmittel vor der Tonne gerettet.
Genau! Wie die geretteten Lebensmittel fair-teilt werden, ist den Foodsavern selbst überlassen. Wichtig ist nur, dass der Foodsaver die Lebensmittel kostenlos weitergibt und dass sie für den menschlichen Verzehr verwendet werden. Er kann selbst davon essen oder sie an seine Nachbarn, Freunde, Bekannte weitergeben. Er kann sie auch an eine soziale Einrichtung geben oder sie zu einem Fair-Teiler, also einem öffentlich zugänglichen Kühlschrank bringen.
Die Mengen, die Privatpersonen wegwerfen sind wahrscheinlich überschaubar. Wäre es nicht sinnvoller weggeworfene Nahrungsmittel von Betrieben zu retten?
Wir retten auch Lebensmittel bei Betrieben, Supermärkten oder Bäckereien und geben diese kostenlos weiter. Aktuell haben wir deutschlandweit eine Kooperation mit circa 4.500 Betrieben. Jeder, der Essen bei Betrieben retten möchte, macht auf unserer Plattform ein kleines Quiz, in dem ein paar Inhalte abgefragt werden.
Ist ein Test nicht etwas übertrieben?
Wir wollen zur Thematik „Lebensmittelverschwendung“ Wissen vermitteln, für die Problematik sensibilisieren und über (globale) Zusammenhänge aufklären. Wir tragen Verantwortung gegenüber unseren Kooperationsbetrieben und müssen im Rahmen der Fair-Teilung verantwortungsbewusst mit den Lebensmitteln umgehen.
Was habe ich davon, wenn ich geprüfter Foodsaver bin?
Ich bekomme meinen Foodsharingausweis und darf selbstständig Lebensmittel retten. Dieser Foodsharing-Ausweis hat die Bewandtnis, dass man sich vor dem Betrieb ausweisen kann. Dass man zeigen kann: Ich bin geprüft worden, ich weiß, um was es geht, ich bin vertrauenswürdig. So kann sich der Betrieb sicher sein, dass nur Menschen vorbeikommen, die wissen, was sie tun und die verantwortungsbewusst und zuverlässig sind.
Wenn ihr Sitz in Köln ist, macht es doch keinen Sinn in einem Stuttgarter Betrieb Lebensmittel zu retten.
Darum kann ich mich auf foodsharing.de für meinen Heimatbezirk eintragen. Wenn ich in Stuttgart wohne, melde ich mich beim Stuttgarter Bezirk an. Ich lande dann im Stuttgarter Forum. In dieser Community können sich die Menschen vernetzen und Informationen austauschen. Außerdem sehe ich die Betriebe, die in Stuttgart mitmachen.
Damit nicht jeder einzeln zum Betrieb fährt, wird in den Ortsgruppen ein Abholteam gebildet.
Das ist eine Gruppe von Menschen, die bereit ist, Lebensmittel abzuholen. Uns ist es wichtig, dass das auf möglichst ökologischem Weg passiert und dass man nicht lange mit dem Auto rumfahren muss. Nach Wunsch der Betriebe vereinbaren wir Abholzeiten. Das kann einmal am Tag sein oder zweimal, früh morgens oder spät abends. Abholen dürfen diese Lebenmittel dann nur die Foodsaver, die angemeldet sind und vorher gebrieft wurden.
Auf Ihrer Internetseite steht, dass Sie mittlerweile 16 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor der Tonne bewahrt haben. Wie fühlt sich das an?
Naja, das ist ein etwas ambivalentes Gefühl. Natürlich haben wir sehr viel erreicht und darüber freuen wir uns. Die Mengen, die wir gerettet haben, klingen unfassbar groß, aber wenn Sie diese Zahlen mit den 313 kg Essen vergleichen, die wir pro Sekunde wegwerfen, ist natürlich klar, dass das ein Tropfen auf den heißen Stein ist.
Sie meinen, das Kernproblem „Lebensmittelverschwendung“ bleibt ungelöst?
Es ist völlig klar: Über das Retten werden wir dieses Problem niemals lösen können, denn wir produzieren zu viele Lebensmittel. Und die können wir weder alle retten, noch alle essen.
Warum retten Sie dann Lebensmittel?
Sicher kennen Sie den Film „Taste the Waste“?
Ein Film von Valentin Thurn aus dem Jahr 2011, in dem er die Lebensmittelvernichtung zum Thema macht.
Richtig. Der foodsharing e.V. ist aus diesem Kinofilm entstanden. Valentin Thurn hat das Thema damals an die Öffentlichkeit gebracht und gezeigt, welche Massen an Lebensmitteln wir Tag für Tag wegwerfen. Aber wir brauchen Handlungsoptionen für die Menschen. Es hilft nichts, einen Missstand darzustellen. Dann sagen die Menschen: Ok cool, aber was kann ich dagegen tun? Darum haben wir die Plattform foodsharing.de gegründet, denn da kann jeder Mensch anpacken und etwas dagegen tun.
Aber müssten Sie das Problem nicht an der Wurzel anpacken, wenn Sie wirklich etwas erreichen wollen?
Ja, das versuchen wir und das gelingt uns über verschiedene Säulen. Einerseits durchaus über das Retten von Lebensmitteln, denn dadurch machen wir die Verschwendung anschaulich und greifbar. Die Menschen entwickeln dann wieder ein besseres und nachhaltigeres Bewusstsein im Umgang mit Lebensmitteln. Zusätzlich machen wir Bildungsarbeit. Wir gehen an Schulen und halten Workshops. Und wir sind politisch aktiv. Wir versuchen an die Industrie und den Handel ran zu kommen und an Stellrädern zu drehen, damit wir dieses Problem in den Griff bekommen. Aber es ist eine sehr anstrengende, kräftezehrende Aufgabe und wir haben schnell gemerkt, dass Politik, Industrie und Lobbyismus sehr verwachsen sind.
Trotzdessen kämpfen Sie und motivieren sich immer wieder selbst. Was wäre die größte Freude, die man Ihnen als Foodsaver bereiten könnte?
Mein Bestreben ist es, dass wir irgendwann vielleicht keine Lebensmittel mehr abholen müssen und Foodsharing im Sinne von Überflussverteilung auflösen können. Ich würde mir wünschen, dass wir es schaffen zu einer bedarfsgerechten Produktion zurückzukommen. Wir müssen zu einem Leben zurückfinden, das für alle lebenswert und fair ist.
Ronja Goj
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Text: Ronja GojIn: Pfarrbriefservice.de