Heilige für Protestanten?

Mehr als fünfzig Mal werden im Neuen Testament Menschen als "heilig" bezeichnet. Meist sind es ganz normale Mitglieder der Christengemeinden. In diesem Sinn versteht auch Martin Luther die Aussage des Glaubensbekenntnisses von der "Gemeinschaft der Heiligen" als Auslegung dessen, was auch "heilige Kirche" meint: die Gemeinde der Christen.

Heidnische Vielgötterei in christlichem Gewand

Schon sehr früh, als die Christen vom römischen Staat verfolgt wurden, entstand die Auffassung, dass Märtyrer für Christus nach ihrem Tod unmittelbar in den Himmel aufgenommen werden und dort fürbittend bei Gott für die eintreten, die sie darum anrufen. Daraus entwickelte sich die spätere Heiligenverehrung mit ihrem Reliquienkult und dem Wallfahrtswesen. Sie erlebte im Mittelalter ihren Höhepunkt. In der Volksfrömmigkeit setzte sich damit oft die alte heidnische Vielgötterei in christlichem Gewand fort. Martin Luther räumte dann aber nicht nur so manchen Missbrauch beiseite, sondern die Heiligenverehrung überhaupt: die Bibel kenne nur einen himmlischen Fürbitter, Christus, und die Anrufung von Heiligen komme einer Verleugnung seiner alleinigen Mittlerrolle gleich.

Heilige als Götzen?

Martin Luther selbst war noch ganz mit der Heiligenverehrung aufgewachsen. Später wurde er zum radikalen Kritiker: zu "Götzen" seien die Heiligen geworden, einem jeden Heiligen habe man "besondere Kraft und Macht zugeeignet, einem über Feuer, diesem über Wasser, diesem über Pastillen, Fieber und allerlei Plage, so dass Gott selbst hat ganz müßig sein müssen und die Heiligen anstatt seiner wirken und schaffen lassen". Luther sah die Gefahr, dass "sich die Leute gewöhnen, mehr Zuversicht auf die Heiligen zu setzen als auf Christus selbst". Heiligenverehrung gerät für Protestanten deshalb in den Verdacht der Heiligenanbetung.

Alle Getauften sind heilig

"Heilig" bezeichnet eigentlich zuallererst das Wesen Gottes als des ganz Anderen und Erhabenen. Die Bibel erzählt aber auch, wie Gott Menschen für sich erwählt, um mit ihnen sein Ziel des Heils für die ganze Schöpfung zu verfolgen: Abraham, Mose, dann sein ganzes Bundesvolk Israel, schließlich dessen spätere Erweiterung durch Christus in der weltweiten Christengemeinde. Ein "heiliges Volk" sind die Christen, nicht weil es aus Vollkommenen besteht, sondern weil es des heiligen Gottes Eigentum und Werkzeug ist (2. Mose 19, 5 – 6). Als Christen sind Menschen durch Christus und den Geist Gottes "geheiligt" (1. Korintherbrief 6, 11), so gesehen sind also alle Getauften heilig.

Als Heilige leben

Aus dieser Gabe erwächst zugleich die Aufgabe: "Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott" (3. Mose 19, 2). Deshalb nennt das Neue Testament solche Lebensgestaltung "Heiligung". Dabei gibt es besonders vorbildliche Menschen, derer auch protestantische Kirchen gedenken. Man kann Gott durch Heiligenverehrung die ihm allein gebührende Ehre vorenthalten; ohne Lob und Anerkennung der durch ihn besonders begnadeten Geschöpfe nimmt man ihm aber auch die Ehre: denn heilig sind Menschen ja nicht aufgrund ihrer eigenen Bemühungen und Leistungen, sondern weil sie berufen und angenommen sind zu Töchtern und Söhnen Gottes, in denen sein Geist wohnt und wirkt.

Der „Evangelische Heilige“

"Der evangelische Heilige ist der tapfere Sünder, der sich im Vertrauen auf Gottes Vergebung in Christus auch eine falsche Entscheidung zu treffen traut. Er scheut nicht vor der Verantwortung zurück, wenn er sich gesellschaftlich auf Glatteis begeben sollte; er kann es sich leisten, risikofreudig zu sein. Der Heilige im Sinn der Reformation ist in erster Linie Zeuge für Gottes gnädige, freimachende Gegenwart." So beschreibt der Marburger Theologe Hans-Martin Barth den "Evangelischen Heiligen".

Schäfer, Joachim: Heilige für Protestanten, aus dem Ökumenischen Heiligenlexikon, 2004 - http://www.heiligenlexikon.de/Grundlagen/Heilige_protestant.htm

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Text: Joachim Schäfer
In: Pfarrbriefservice.de