"Ich freue mich auf jede Stunde!"

Interview mit Henning Scherf

Politik war bis vor kurzem sein Lebensinhalt: 27 Jahre war Henning Scherf Mitglied des Bremer Senats, davon zehn Jahre Bürgermeister. Im November 2005 ging er mit 67 Jahren in den Unruhestand. Seitdem widmet er sich Vorträgen, Orgelspielen, Bücherschreiben, Reisen, seiner Familie. Und der Hausgemeinschaft, die er vor gut 30 Jahren mit Freunden gründete, um sich im Alter gegenseitig bis zum Tode zu pflegen.

Frage: Sie waren 27 Jahre in Regierungsämtern und sind seit Ende letzten Jahres im Ruhestand. Ist Ihre Seele schon angekommen?

 

Henning Scherf: Sofort. Ich hab` diesen Ausstieg aus der Politik so gut hingekriegt, dass ich selbst noch überrascht bin. Ein neues Leben! Voller spannender Fragen und auch voller Nöte, aber eben was Anderes, was Neues.

Frage: Ist Ihr Kalender noch genauso voll wie früher, nur mit anderen Sachen?

 

Henning Scherf: Er ist anders und nicht genauso voll. Als Regierungschef bin ich von morgens um acht bis abends um elf unterwegs gewesen und hier zu Hause immer nur zum Schlafen angekommen. Jetzt ist der Lebensmittelpunkt hier, und ich organisiere meine Termine selber. Das ist ein völlig neuer Zuschnitt.

 

Frage: Haben Sie mehr Zeit für Kreativität?

 

Henning Scherf: Ja, ich bin selbstständiger geworden! Ich war vorher einer, der in einem Laufrad lief, so wie die Tierchen, die man so strampeln lässt, immer weiter, immer weiter. Und jetzt hab’ ich ganz viele Möglichkeiten, wo ich sagen kann: Nö, das nicht, lieber das. Ich muss mich nie mehr rechtfertigen. Das ist eine neue Erfahrung. Die Leute freuen sich, wenn ich Zeit für sie habe.

 

Frage: Haben Sie mehr Zeit für diese Hausgemeinschaft?

 

Henning Scherf: Ja. Ich war früher immer nur hier Gast. Immer große Reden draußen gehalten, wie toll das hier alles lief, und die hier im Haus haben gesagt: Du redest immer so, Du bist ja die seltenste Zeit hier. Ja, das hat sich geändert. Jetzt bin ich hier eingebunden.

 

Frage: Heute kochen Sie Chili con carne.

 

Henning Scherf: Ja, zum ersten Mal! Hier kocht immer nur einer im Haus und für alle anderen mit. Das geht reihum, das ist eine große Entlastung. Und zweitens hat das großen Charme. Ich kenne alte Leute, die gar keine Lust mehr haben zum Kochen, die essen dann nicht mehr richtig. Als meine Mutter alt und alleine war, hab’ ich sie mittags immer besucht, damit sie für mich kochte. Die hätte für sich nicht gekocht: „Warum soll ich für mich kochen? Aber für Dich koche ich gerne!“ Dann hab’ ich gesagt: „Mutter, das machen wir zusammen, und wir essen das beide auf!“ Und da hab’ ich gelernt, wie viel Spaß das macht, wenn man mit anderen zusammen essen kann.

 

Frage: Hier kommt jeder mal dran?

 

Henning Scherf: Jeder macht das so, wie er kann. Das ist schön. Wir haben hier viele Dinge, die wir auf ungewöhnliche Weise zusammen machen. Also nicht nur Urlaub machen. Oder nicht nur gemeinsame Freunde einladen, übernachten lassen. Oder Kinder und Enkelkinder herholen. Die toben dann im ganzen Haus rum.

 

Frage: Sie haben auch schon bewegende Sachen miteinander durchgestanden, etwa dass Menschen gestorben sind.

 

Henning Scherf: Ja. Zwei. Wir sitzen hier in einem Raum, in dem einer seinen Krebs zu Ende ausgetragen hat, fünf Jahre lang. Er war 29, als er starb. Und am Schluss, als es zu Ende ging, wollte er nicht in die Klinik. Und er hat uns immer wieder gefragt: Macht ihr das? Und wir haben das alle Tag und Nacht mit ihm geteilt. Die Türen waren immer offen. Er hat gesagt: „Ich muss, wenn ich Angst habe, bei euch in der Nähe sein.“ Nachher haben wir auch nachts immer jemanden gehabt, der hier mit ihm im Raum war. Es war sehr ergreifend. In den letzten Tagen, als wir nicht mehr wussten, ob er überhaupt noch was mitkriegt, waren auch unsere Enkelkinder da und haben ihm vorgesungen. Wir sind ganz selbstverständlich in seiner Nähe gewesen. Das war nichts Schreckliches und Spektakuläres, sondern das war was Menschliches. Das sind ganz tief gehende Erfahrungen. Die haben uns zusammen geschweißt.

 

Frage: Sie selber verschenken gern das Buch von Jörg Zink: „Ich werde gerne alt.“ Werden Sie es gern?“

 

Henning Scherf: Naja, ich bin 67, aber mein Lebensgefühl ist: Ich werde gerne alt. Ich freu mich aufs Alter. Ich bin neugierig, was ich alles noch vor mir habe. Und zwar auch in dem Gefühl, dass es weniger wird. Das ist eine Erfahrung, die ich annehmen möchte, ich will da nicht vor weglaufen. Ich will nicht sagen: bloß wegschieben, sondern ich will das an mich rankommen lassen.

 

Frage: Wird es Ihnen gelingen? Sie sind ein unglaublich agiler Mensch.

 

Henning Scherf: Das hoffe ich. Ich bin nicht sicher, ob ich das bis zum Ende in dieser Fröhlichkeit durchhalte. Ich wünsche mir das, klar. Aber man muss sich auch damit auseinandersetzen, dass die Not am Schluss und dass die Schmerzen so heftig sein können, dass man verzweifelt und den Tod herbeiwünscht. Das gibt es auch. Das muss man nicht dämonisieren.

 

Frage: Haben Sie Wünsche in Bezug auf Ihr Sterben?

 

Henning Scherf: Ja, ich möchte möglichst hier im Haus sterben, im Beisein meiner Freunde, meiner Frau, vielleicht kommen meine Kinder auch. Ich wünsche mir, dass ich zwischen Freunden, vertrauten Menschen, die ich liebe, sterben kann.

 

Frage: Haben Sie Hoffnungen für ein Leben nach dem Tode?

 

Henning Scherf: Diese Frage habe ich nicht. Vielleicht bin ich noch nicht alt genug dazu. Ich finde, das Leben vor dem Tode ist so aufregend und so spannend, da will ich eigentlich nichts verpassen und nichts übersehen und auch vor nichts weglaufen. Mich interessiert das Leben vor dem Tode.

 

Frage: In der Bibel steht: Er starb alt und lebenssatt. Könnte es so etwas auch für Sie geben?

 

Henning Scherf: Ich bin lebenshungrig. Ich bin nicht lebenssatt, aber vielleicht passiert mir das ja noch. Mein gegenwärtiges Lebensgefühl ist genau das Gegenteil. Manchmal sage ich, ich komme mir vor in diesen Wochen und Monaten, nachdem ich aus der Politik ausgeschieden bin, wie in einer Art Honeymoon, so toll! So neu alles! Und so spannend – es strahlt mich an! Ich habe Lust! Wenn ich morgens aufwache, dann springt mich der Tag an, und ich freue mich auf jede Stunde!

 

Mit Henning Scherf sprachen Iris Macke und Hinrich C. G. Westphal.
aus: Andere Zeiten Magazin 02/06, www.anderezeiten.de

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Das Schwerpunktthema für Januar 2008

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Text: Iris Macke und Hinrich C. G. Westphal
In: Pfarrbriefservice.de