Im „Dazwischen“ liegt die Chance der Veränderung

Interview mit dem Psychotherapeuten Heino Hübner zum Thema Angst

Es gibt viele Situationen im Leben, im ganz normalen Alltag, in denen Menschen Angst verspüren. Beispiele: Angst vor Dunkelheit, Angst vor Prüfungen, Angst vor öffentlichen Auftritten, Angst im Laden kein Klopapier mehr zu bekommen, Angst um die eigenen Kinder, Angst um den schwer kranken Nachbarn, Angst am Vorabend der eigenen Hochzeit, Angst vor Veränderung. Ist Angst normal? Gehört sie zum Menschsein dazu?

Heino Hübner: Auf jeden Fall. Es ist eines der großen Themen. Genauso wie Schmerz, der eine Warnfunktion erfüllt. Angst ist eine Emotion, ein Gefühl. Sie ist eine Grundfähigkeit, die uns mobilisiert. Entweder von etwas weg oder zu etwas hin.

Angst ist ja in den seltensten Fällen ein angenehmes Gefühl. Was passiert da eigentlich im Menschen?

Hübner: Angst hat starke physiologische Wirkungen. Es wird Adrenalin ausgeschüttet. Da passiert etwas im Körper.

Welche Zwecke erfüllt Angst?

Angst bewirkt eine Aktivierung. Die körpereigenen Kräfte werden mobilisiert und fokussiert. Mein Sohn zum Beispiel betreibt Klettersport. Ich fragte ihn, ob er nicht Angst habe beim Klettern. Er bejahte das. Er habe sogar ständig Angst. Doch diese lähme ihn nicht, sondern sie versetze ihn in die Lage, hochkonzentriert und präzise seine Kräfte einzusetzen.

Was den einen befähigt hochkonzentriert bei der Sache zu sein, lässt den anderen panisch werden. Kann man sich diese Unterschiede erklären und wenn ja, wie?

Letztlich sind es viele unterschiedliche Ebenen, die da zusammenspielen. Von Epiktet stammt der Satz „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.“ Soll heißen, es sind die Gedanken über die Dinge, die uns Angst einflößen. Eigene Bewertungen, und vor allem eigene Bewältigungserfahrungen aus der Vergangenheit spielen da eine große Rolle. Alles, was wir im Jetzt erleben, läuft durch den Filter des in der Vergangenheit erlebten. Um das Beispiel „Prüfungsangst“ aufzugreifen: Die Erfahrungen, welche ein Mensch in der Vergangenheit mit Prüfungen gemacht hat, wirken sich auf seine aktuelle Prüfungssituation aus. Da geht er dann entweder ganz entspannt ran, oder er ist ängstlich, bis hin zur Lähmung.

Da bewirkt dann die Angst das Gegenteil ihres ursprünglichen Zwecks.

Genau. Wenn die Angst zu groß ist, wird man von ihr überwältigt. Das letzte Schutzprogramm ist dann die Lähmung. Man friert innerlich ein und zieht sich völlig zurück. In seiner Extremform kann man das bei Traumatisierungsopfern beobachten. In der Psychologie spricht man von Dissoziation, wenn das Opfer innerlich aus der Situation heraus geht und die Szene nur noch wie von außen betrachtet, sozusagen als unbeteiligte Person.

Gibt es noch weitere Erklärungen, warum Menschen auf herausfordernde Situationen unterschiedlich reagieren?

Neben den erwähnten Lernerfahrungen spielen auch ganz stark die Vorbilder eine Rolle, hier vor allem die ersten Bezugspersonen im Leben eines Menschen. Man hat durch Forschung herausgefunden, dass Kinder, die sich in ihren ersten Beziehungen sicher und geborgen fühlen, ihre Umwelt mit viel mehr Mut erkunden. Und umgekehrt, wenn eine Mutter oder ein Vater selber eher ängstlich ist, wird dem Kind etwas anderes vermittelt.

Viele Menschen haben Angst vor Veränderung. Welchen Blick haben Sie darauf?

Es gibt ja viele lebensverändernde Situationen, die uns Angst machen können. Zum Beispiel ein Kind wird geboren, ein Unfall wirft die Lebensplanung über den Haufen, ein Angehöriger stirbt plötzlich. Wenn man solche Situationen analysieren möchte, dann gibt es einen Zustand davor, das ist das Bekannte, das sichere Terrain. Der Zustand danach ist noch weitgehend unbekannt. Und dann ist da das Vakuum dazwischen. Nun möchte der Mensch dieses „Dazwischen“ möglichst schnell hinter sich lassen, um sich wieder in „Sicherheit“ zu bringen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Corona-Pandemie ist ein schönes Beispiel. Das Vertraute, die Sicherheit war mit dem Ausbruch des Virus vorbei. Eine neue Sicherheit war dagegen sehr lange nicht in Sicht. Ängstliche Menschen klammern sich in solchen Situationen gerne an vermeintliche Sicherheiten, mehr als andere. So wird zum Beispiel auf Querdenker-Demonstrationen gemeinsam getanzt und sich gegenseitig bestärkt. Die Realität verleugnen ist auch beliebt. Klassisches Beispiel: Verschwörungstheorien. Da werden Erklärungsmuster gesucht für das, was da passiert. Es entstehen in sich geschlossene Gedankengebäude, die man nicht überprüfen kann, die aber völlig aus der Luft gegriffen sind. Das ist eine Form von Angstbewältigung.

Ein anderes Beispiel: Eine Beziehung geht kaputt. Jemand springt sofort von der einen in die nächste Beziehung. Die alten Probleme werden sich wahrscheinlich wieder neu inszenieren. Hält man dagegen die Lücke aus, besteht die Chance für eine Neuentwicklung. Vielleicht lebt jemand ja glücklicher als Single?

Wie könnte der Mensch konstruktiver mit solchen Umbruch-Situationen umgehen?

Im Aushalten dieses Vakuums liegt eine große Chance. Aus dem Übergang kann ja etwas Neues entstehen. Wir sind es leider nicht mehr gewohnt, dass es Lücken gibt. Das bedeutet nämlich, der Veränderung Zeit zu geben und nicht zu versuchen, möglichst schnell zum Nächsten zu gehen. Das biblische Wort „Fürchtet euch nicht“ verstehe ich in diesem Kontext so: Zu wissen und anzuerkennen, da gibt es einen Teil von mir, der fürchtet sich vor der Ungewissheit, die im Neuen verborgen liegt. Aber es gibt auch einen starken inneren Anteil, der kann vertrauen.

Kann man diesen vertrauenden Anteil stärken?

Man hat es leichter, wenn es gelingt, sich ganz auf das Jetzt zu fokussieren. Sich klar zu machen, was gehört zur Vergangenheit, und was kann, was wird wirklich passieren. Weiß ich überhaupt, wie sich die Zukunft entwickelt? Zur Angst gehört ja immer die Fantasie, wie wir gesehen haben. Wenn ich voll und ganz im Jetzt lebe, dann lasse ich automatisch meine Fantasien los. Was dann bleibt, ist nur noch 20 % Angst in Form von körperlichen Symptomen.

Und wenn mir diese körperlichen Symptome unangenehm sind?

Es gibt bekannte Entspannungsverfahren, die man einüben kann. Zum Beispiel die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson oder Autogenes Training. Auch Meditation hilft. Außerdem Sport, wie Laufen oder jeglicher Ausdauersport.

Danke für das Gespräch!

Heino Hübner, Jahrgang 1952, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
39 Jahre lang war er fachlicher Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle für Suchtprobleme in Aschaffenburg (Caritasverband für die Diözese Würzburg). Er ist in einer Beratungseinrichtung als Supervisor tätig sowie als Psychotherapeut in eigener Praxis.

Quelle: Christian Schmitt, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Christian Schmitt
In: Pfarrbriefservice.de