„In jedem von uns lebt ein kleiner Populist“

Ein Gespräch mit Dr. Christian Boeser über die Herausforderung des Streitens

Eigentlich ist es ganz einfach: Wollen verschiedene Menschen mit ihren unterschiedlichen Ansichten gut zusammenleben, müssen sie miteinander reden. Doch schnell enden die Gespräche im Streit, man wirft sich Dinge an den Kopf und unterstellt dem jeweils anderen böse Absichten. Und dennoch brauchen wir ihn, den Streit. Davon ist Dr. Christian Boeser überzeugt. Er ist Akademischer Oberrat am „Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung“ an der Universität Augsburg und Leiter des „Netzwerks Politische Bildung Bayern“. Ein Gespräch mit ihm über sein neues Buch „Streitförderer“.

Herr Boeser, Ihre These ist: Wir brauchen in unseren Beziehungen und in unserer Gesellschaft den Streit. Streit in der Politik kommt bei den Wählerinnen und Wählern aber eher nicht gut an, oder?

Christian Boeser: Auf einer oberflächlichen Ebene verbinden die meisten Menschen mit Streit erst einmal etwas Negatives. Das konnten wir auch in unserem Forschungsprojekt feststellen, in dem wir 50 ganz unterschiedliche Personen nach ihren Erfahrungen mit dem Streiten befragt haben. Wir haben dann aber nachgefragt: Was wäre, wenn wir gar nicht mehr streiten? Und was wäre, wenn wir immer feindselig streiten? Vielen Menschen ist klar, dass beides nicht funktioniert. Wie sollte Politik, wie sollte Meinungsbildung in einer Demokratie, in einem freien Land funktionieren, wenn nicht über offene Auseinandersetzungen? Meine These ist: Wir brauchen Streitschlichter, wenn der Streit eskaliert. Und wir brauchen Streitförderer, wenn Menschen zu große Angst haben vor der Auseinandersetzung.

Was erschwert derzeit ein konstruktives Streiten Ihrer Einschätzung nach?

Christian Boeser: Letztlich ist da eine gewisse Denkfaulheit bei ganz vielen Menschen zu beobachten. Sie vergessen, dass wir in vielen grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft doch einen Wertekonsens haben. Diese Werte stehen aber in einem Spannungsfeld. Das heißt, die Auseinandersetzungen, die wir gesellschaftlich führen, sind nicht einfach Probleme, die man lösen kann. Es sind vielmehr Dilemmata, also Werte, die zueinander in Spannung stehen und immer wieder neu ausbalanciert werden müssen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Christian Boeser: Nehmen wir die Frage einer geschlechtergerechten Sprache. Es ist Konsens in unserer Gesellschaft, dass Sprache nicht ausgrenzen und nicht verletzen soll. Es ist aber auch Konsens, dass wir eine freie, verständliche und vertraute Sprache brauchen. Beide Werte stehen in Bezug auf eine gendersensible Sprache in Spannung. Wenn Menschen sich hier unterschiedlich positionieren, wird oftmals vergessen, dass viele diese beiden Werte im Grunde teilen, aber halt unterschiedlich ausbalancieren. Sehr oft passiert es dann, dass man dem anderen Böses unterstellt. Bei diesem Thema unterstellen die einen den anderen, dass sie absichtsvoll oder völlig ahnungslos ausgrenzen wollen. Und die anderen unterstellen, dass hier die Freiheit der Sprache durch eine Art Sprachpolizei eingeschränkt werden soll. Man hat letztlich die Vorstellung: Es ist ein Problem, das man einfach lösen kann. Man kann es aber nicht lösen, sondern wir müssen dieses Spannungsfeld immer wieder aufs Neue ausbalancieren.

Das heißt, offene Fragen können nie wirklich gelöst werden. Und was ist mit denen, die sich mit ihren Ansichten nicht durchsetzen können?

Christian Boeser: Politik muss immer in irgendeiner Form Anpassungen vornehmen. Das ist das Wesen von Politik, weil sich die Gesellschaft ständig verändert. Grundsätzlich ist die unterlegene Seite eher bereit, eine Entscheidung zu akzeptieren, wenn es im Diskurs gelingt, ihre Werte zu sehen und ernst zu nehmen.

In Ihrem Buch schreiben Sie: ‚Letztlich stellt Populismus eine grundlegende Haltung dar, die feindseligen Streit hervorbringt.‘ Was meinen Sie damit?

Christian Boeser: Ich meine damit die Haltung, es besser zu wissen als alle anderen. In jedem von uns lebt ein kleiner Populist, der gerne Recht hat und die Welt selektiv durch seine Brille wahrnimmt, dem es schwerfällt, Zweifel zuzulassen. Während der Corona-Pandemie war das sehr deutlich. Ich habe mit sehr vielen Menschen sehr intensive Gespräche geführt, auch mit Menschen, die das Thema anders gesehen haben als ich. Und die spannendste Frage war immer: Was, wenn ich mich täusche? Jemand, der sich auf diese Frage nicht mehr einlassen kann, der ist quasi seinem eigenen kleinen Populisten erlegen, weil er nicht mehr bereit ist, zu zweifeln und zu hinterfragen, ob der andere nicht vielleicht an irgendeinem Punkt auch Recht haben könnte.

Populistische Parteien erfahren in Deutschland, aber auch in anderen Ländern enormen Zuspruch.

Christian Boeser: Wenn Populisten an die Macht kommen, ist das für die Demokratie sehr gefährlich. Ich beziehe mich hier auf eine Definition von Populismus des Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller. Demnach üben Populisten typischerweise eine scharfe Elitenkritik nach dem Motto: Die da oben sind schuld. Da stört es auch nicht, dass sie möglicherweise, wie Donald Trump in den USA, selbst zur Elite gehören. Typischerweise formulieren sie außerdem den Anspruch, für das Volk zu sprechen. Das heißt, Populisten können gar nicht abgewählt werden, weil sie ja für das Volk sprechen und deshalb immer schon an der Macht sein müssen. Sollte das nicht der Fall sein, wurde in ihrer Deutung die Wahl manipuliert oder die Menschen wurden durch Fake News in die Irre geleitet. Wir als Menschen haben die Tendenz, es angenehm zu finden, wenn jemand anderes schuld ist. Dann müssen wir uns nicht darum bemühen, den eigenen Beitrag zu entdecken. Wir empfinden es in der Regel auch als angenehm, Recht zu haben. Aber immer nur zu sagen: Die anderen sind schuld und ich habe Recht, ist keine Alternative. Die eigene Verantwortung anzuerkennen und den eigenen Zweifel ernst zu nehmen, ist der einzige Weg, wenn wir in einem freien Land leben wollen und uns gut weiterentwickeln möchten.

Wie gelänge ein guter, ein konstruktiver Streit über strittige Themen?

Christian Boeser: Das sind letztlich ganz einfache Dinge. Das Erste ist, dass ich mich wirklich dafür interessiere, was der andere will, was der andere meint, welche Werte bei ihm dahinter stehen, worum es ihm wirklich geht. Das Zweite ist: Ich zeige mich mit dem, was ich will, warum mir etwas wichtig ist, warum es mich vielleicht auch emotional umtreibt. Das Sich-Interessieren und das Sich-Zeigen – das sind zwei ganz wichtige Punkte.

In Ihrem Buch benennen Sie weitere Faktoren.

Christian Boeser: Ja. Wichtig ist drittens, die Wechselwirkung in unserem Verhalten anzuerkennen. Wir befinden uns, gerade wenn etwas nicht gut läuft, oftmals in einem Teufelskreis, wo man sich wechselseitig unterstellt: Du hast angefangen. Wenn ich darum weiß, kann ich gegensteuern. Viertens hilft das Denken in Dilemmata, also nicht: Ich habe es kapiert und habe Recht und muss den anderen nur überzeugen. Wenn ich mir bewusst mache, dass wir es ganz oft mit Spannungsfeldern zu tun haben, und wenn ich den anderen hier ernst nehme mit seinem Anliegen und seinen Werten, die ich ja auch irgendwie teile, dann tue ich mir wesentlich leichter. Und schließlich fünftens: Es hilft, wenn man sich Scheitern zugesteht – eine Großherzigkeit gegenüber eigenen Fehlern, aber auch gegenüber Fehlern der anderen. Ein Streit kann auch mal kippen, da muss man realistisch sein. Aber ist denn ein Streit dann gut, wenn am Ende beide das Gleiche denken? Das wäre völlig unrealistisch. Ein Streit ist vielmehr dann schon ein riesengroßer Erfolg, wenn zwei Menschen, die vorher nicht in der Lage waren, sich wechselseitig zuzuhören, das schaffen und auf einmal akzeptieren: Okay, ich sehe die Welt zwar anders, aber das ist deine legitime Auffassung. Damit kann ich jetzt ein bisschen was anfangen.

Sie verstehen Ihr Buch als Anleitung für Menschen, die Streitförderer werden möchten. Was zeichnet Streitförderer aus?

Christian Boeser: Für Streitförderer ist Streit ein Ausdruck von Wertschätzung. Sie sind es sich wert, dass sie ihre Interessen und Werte äußern. Und für sie sind die anderen es auch wert, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Auf der gesellschaftlichen Ebene lebt eine freie Gesellschaft geradezu vom Streit. Es braucht den offenen Diskurs, der es ermöglicht, bei den unterschiedlichen Werten und Interessen, die wir immer haben werden, respektvoll nach einem Weg zu suchen, mit dem alle einigermaßen in Frieden leben können. Im Rahmen des Wertebündnis Bayern planen wir aktuell, Streitförderer auszubilden, die gezielt Räume für diesen Dialog schaffen.

Interview: Elfriede Klauer, In: Pfarrbriefservice.de

Buchtipp

Christian Boeser: Streitförderer. Warum wir sie brauchen. Wie Sie einer werden. Ulm, Verlag Klemm+Oelschläger, 2023. 104 Seiten; 10 Euro

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de