Menschwerdung und geräucherter Aal

Ein prägendes Weihnachtserlebnis in russischer Gefangenschaft

Erwin wartete. Er lag nun schon viele Wochen im Krankenhaus und rief oft nach der Seelsorge. Ich hatte versprochen, ihn zu besuchen. Es war Heilig Abend. Er strahlte, als ich mich an sein Bett setzte. Zunächst erzählte der alte Mann von seinem Leiden. Doch seine Gedanken galten an Weihnachten einem ganz besonderen Menschen. Ihm hatte er einst sein Leben zu verdanken. Es drängte ihn, mir davon zu erzählen.

Er sagte: „Im Krieg geriet ich in russische Gefangenschaft. Da war ich gerade einmal siebzehn Jahre alt. Halb verhungert musste ich für eine Bäuerin schuften. Neben der Landwirtschaft besaß sie eine Aalräucherei. Die Arbeit war hart, und in meiner dünnen Kleidung fror ich fürchterlich. Aber die Härte in den Augen der Frau war schlimmer als die Kälte. Wo ich nur konnte, ging ich ihr aus dem Weg. Das war nicht einfach. Am schlimmsten aber war das Heimweh. Ich vermisste meine Eltern und meinen Bruder so sehr.“

Der Sinn von Weihnachten

Ergriffen schwieg Erwin. Ich sah, wie er mit den Tränen kämpfte. Nach einer Weile fuhr er stockend fort: „Ich weiß nicht, was es eigentlich war. Eines Tages lächelte sie – zaghaft, aber sie lächelte, und irgendwann sagte sie ‚Junge‘ zu mir. Nur dieses eine Wort: Junge. Dann geschah das Unbegreifliche. Weihnachten nahm sie meine Hand und führte mich in ihre Stube. Sie zeigte mir Fotografien. Es mussten wohl ihre Söhne sein. Einer war blond wie ich. Die Frau schenkte mir warme Kleidung. Zur Feier des Tages gab es geräucherten Aal. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn noch heute riechen. Sie teilte das Essen mit mir. Von da an hielt sie mich wie einen Sohn. Später dann der Abschied ... wie weh er tat. Ja“, flüsterte der alte Mann, „geräucherter Aal und Weihnachten – wie könnte ich das jemals vergessen.“

Lange war es still. Ernst sah Erwin mich an: „In meinem Leben habe ich mich oft gefragt: Wie steht es um dein Menschsein?“ Und leise flüsterte er: „Das ist doch der Sinn von Weihnachten, nicht wahr? Die russische Bäuerin hat mir vorgelebt, wie es geht. Ludmilla sah ich nie wieder. Aber ihr Bild – ihr Bild trage ich in mir. Sie bleibt für alle Zeiten mein Weihnachtsengel.“

Monika Rudolph
Quelle: Katholische Hörfunkarbeit für Deutschlandradio und Deutsche Welle, Bonn. www.katholische-hörfunkarbeit.de. In: Pfarrbriefservice.de

Verknüpft mit:

Das Schwerpunktthema für Dez. 2018/ Jan. 2019

Vor dem Herunterladen:

Datei-Info:
Dateiformat: .doc
Dateigröße: 0,02 MB

Sie dürfen den Text NICHT in sozialen Medien nutzen (z.B. Facebook, Twitter, Instagram, YouTube, etc.)

Beispiel für den Urhebernachweis, den Sie führen müssen, wenn Sie den Text nutzen

Text: Monika Rudolph, www.katholische-hörfunkarbeit.de
In: Pfarrbriefservice.de