„Viel mehr Genuss und Lebensqualität“

Was achtsames Essen alles verändern kann – Ein Interview

Achtsames Essen – das klingt nach viel Zeit und Langsamkeit. Das lässt sich in einem streng getakteten Alltag auf keinen Fall unterbringen. Oder vielleicht doch? Sarah Niehaus von der Bewegung Slow Food Deutschland spricht im Interview über ihre Erfahrungen damit und zeigt auf, dass achtsames Essen weit mehr ist als langsam zu essen.

Frau Niehaus, was ist achtsames Essen?

Sarah Niehaus: Das ist nicht so ganz einfach auf einen Punkt zu bringen. Ich sag’s mal so. Achtsames Essen meint: Ich nehme überhaupt wahr, dass ich esse. Und ich nehme wahr, wie ich esse und was ich esse. Über das bewusste Wahrnehmen gelingt mir eine Bestandsaufnahme: Esse ich schon wieder vor dem Computer oder schlürfe ich meinen Kaffee gedankenlos hinunter? Wo bin ich eigentlich gerade – mit meinen Gedanken, mit meinen Gefühlen? Wenn mir das bewusst wird, kann ich das auch ändern. Essen kann wie andere Dinge, die ich tagtäglich tue, ein wunderbarer Anker sein, mich in den gegenwärtigen Augenblick zu holen und mich ihm mit voller Aufmerksamkeit zu widmen.

Warum sollte ich am Essverhalten überhaupt etwas ändern?

Sarah Niehaus: Weil nur ein achtsamerer Umgang mit Essen und damit auch bewussteres und entschleunigtes Essen mir, meinem Umfeld und der Umwelt guttun.

Wie meinen Sie das?

Sarah Niehaus: Mir passiert das auch manchmal, dass ich vor dem Rechner esse oder mein Essen hinunterschlinge. Wenn ich aber nicht mitbekomme oder nur halb mitschneide, dass ich Nahrung zu mir nehme, dann bleibe ich am Ende ungesättigt.

Obwohl dann der Bauch drückt …

Sarah Niehaus: Wenn ich anfange, achtsam zu essen, fällt es mir leichter zu unterscheiden: Wann habe ich wirklich Hunger? Wann sättige ich eher einen emotionalen Hunger oder schlechte Gefühle? Was braucht mein Körper? Ich erschmecke den Unterschied zwischen guten Grundnahrungsmitteln und industriell verarbeiteten Produkten und werde merken, dass diese oft nicht satt machen, weil sie von den Nährstoffen her weniger wertvoll sind. Wenn ich achtsam esse, entwickle ich ein Gespür dafür, was mich auf allen Ebenen satt und glücklich machen kann und darüber hinaus meiner Umwelt gut tut. Ich arbeite quasi an der Beziehung zu mir und dem, was mich umgibt. Dazu gehören für mich Lebensmittel, die so erzeugt und weiterverarbeitet sind, dass es der Umwelt möglichst wenig schadet. Zu achtsamem Essen gehört auch die Freude an einer Art der Zubereitung, bei der ich mit allen Sinnen dabei bin. Und ich emanzipiere mich von den ganzen Ernährungstrends.  

Wie geht achtsames Essen?

Sarah Niehaus: Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Für mich beginnt es bereits mit dem Einkauf. Ich überlege mir vorher, was und wo ich einkaufe und achte idealerweise auf kurze Wege zum Erzeuger. Dann bedeutet achtsames Essen, dass ich mir Zeit für die Zubereitung nehme. Wenn dann das Essen vor mir auf dem Tisch steht, nehme ich es einen Moment bewusst wahr. Wie sieht es aus? Wie riecht es? Wie schmeckt es? Ich kaue langsam, lege zwischendurch mal die Gabel beiseite und spüre kurz nach. Bei mir erzeugt das oft ein Gefühl von Dankbarkeit, dass ich dieses Essen jetzt essen darf.

Das hört sich nach ziemlich viel Zeit an, die man dafür braucht.

Sarah Niehaus: Das stimmt. Das war aber auch jetzt die ausführliche Variante (lacht). Das braucht es nicht drei Mal am Tag. Und grundsätzlich gilt, dass auch schnelles Essen mal in Ordnung ist. Aber es ist wie mit dem schnellen Handeln. Wenn es zum Dauerzustand wird, dann ist es schlichtweg nicht gesund für uns. Selbst in der Mittagspause, ob auswärts oder in der Kantine, kann ich achtsames Essen praktizieren, indem ich mich mit Kollegen an den Tisch setze und in jedem Augenblick weiß, was ich tue. In dem Fall kombiniere ich sicher reden und essen. Da ist es gut, aus dem Redefluss heraus immer wieder die Aufmerksamkeit auf das Essen zu lenken, das Kauen wahrzunehmen. Im Idealfall erspart man sich Problemgespräche während des Essens.

Und was mach ich, wenn ich merke, ich esse eigentlich viel zu schnell?

Sarah Niehaus: Es ist auch achtsames Essen, wenn ich überhaupt bemerke, dass ich schlinge. Wichtig ist dann, sich dafür nicht zu verurteilen. Sondern es geht darum, das Schlingen zu bemerken, kurz innezuhalten und dann achtsam weiter zu essen. Für mich heißt achtsames Essen aber auch zu schauen, welche Lebensmittel ich esse. Und das hat nicht zwangsläufig mit mehr Zeitaufwand, sondern einer anderen Wertschätzung zu tun. Wenn ich also irgendwo bin und Essen auswähle, kann ich auch hier auf die Zutaten achten und z.B. auf tierische Erzeugnisse verzichten, wenn ich nicht weiß, wo sie herkommen. Für mich hat das etwas mit unserer Verantwortung für das große Ganze zu tun. Und dazu gehört auch zu wissen, welche Lebensmittel gerade Saison haben. Die bekomme ich nämlich in sehr guter Qualität aus ökologischer Erzeugung zu fairen Preisen. Achtsames Essen geht auch mit kleinem Geldbeutel.

Was habe ich davon, wenn ich achtsam esse?

Sarah Niehaus: Viel mehr Genuss und viel mehr Lebensqualität und viel mehr Klarheit im Geist, weil ich übe, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Und zugleich spreche ich alle meine Sinne an. Das ist doch toll.

Keine Zeitung und kein Handy mehr beim Essen?

Sarah Niehaus: Ganz wichtig, es geht nicht um Verbote beim achtsamen Essen. Ich habe auch manchmal ein Buch dabei beim Essen. Es geht darum, die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Essen zu lenken und es nicht rein als Nebentätigkeit zu tun. Der Körper hat ja auch zu tun mit dem Essen. Er muss es verdauen. Dafür kauen wir am besten gut und gönnen uns etwas Bewegung nach dem Essen. Das ist übrigens auch sinnvoll nach der Mittagspause. Und achtsames Essen lädt auch zum Experimentieren ein. Warum nicht mal ein Essen allein und in Stille und eben ohne Handy verbringen? Viele halten das heutzutage gar nicht mehr aus. Das ist doch echt schade.

Interview: Elfriede Klauer, Pfarrbriefservice.de

Sarah Niehaus ist Mediensprecherin von Slow Food Deutschland e.V.

Die Bewegung Slow Food

Slow Food wurde 1986 in Italien von Carlo Petrini initiiert und setzt sich für ein Lebensmittelsystem ein, welches sozial und ökologisch verantwortungsvoll ist; welches die biologische Vielfalt und das Tierwohl schützt und alle Sinne anspricht. Mit diversen Projekten, Kampagnen und Veranstaltungen in ganz Deutschland zeigt der Verein, dass Genuss und Verantwortung zusammenpassen. In Deutschland gibt es Slow Food seit 1992; rund 85 lokale Gruppen setzen Veranstaltungen um, u.a. zu Sinnes- und Geschmacksschulungen. Dabei werden z.B. Grundnahrungsmittel wie Milch aus kleinbäuerlicher Erzeugung mit ihren industriell hergestellten Pendants verglichen. Verbraucher verkosten und vergleichen den Geschmack von Lebensmitteln bei unterschiedlichen Herkünften, Zubereitungsweisen oder Reifegraden. Die Geschmackserlebnisse finden jährlich bei der Slow-Food-Messe in Stuttgart statt sowie fortlaufend bei verschiedenen Veranstaltungen. Termine und Informationen unter www.slowfood.de

Weitere Materialien
von

Sarah Niehaus, www.slowfood.de

  • Beginnen Sie mit einer Bestandsaufnahme und fragen Sie sich: Wann esse ich? Warum esse ich, was ich esse? Und wo esse ich, an welchen Orten, mit welchen Menschen? Tut mir das gut? Nehme ich ein Sättigungsgefühl wahr? Was machen meine Gedanken und meine Gefühle, wenn ich esse?
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Das Schwerpunktthema für Juli / August 2020

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de