Wann hört es auf? Nie.
Ein Interview
Peter Härtling floh vor der Roten Armee, Abbas Khider vor Saddam Hussein. Jetzt brüllen Menschen wieder: „Hängt sie auf!“. Das evangelische Magazin Chrismon bat beide zum Interview.
Peter Härtling, 82, ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren. Er kam 1933 in Chemnitz zur Welt, später zog die Familie nach Mähren. Der Vater starb in russischer Kriegsgefangenschaft, mit Mutter und Schwester floh er nach Nürtingen bei Stuttgart. Am 19. September erschien sein Roman „Djadi, Flüchtlingsjunge“ (Beltz, 12,95 Euro). Peter Härtling lebt im hessischen Mörfelden-Walldorf.
Abbas Khider, 43, ist ebenfalls Schriftsteller. Mit 19 Jahren wurde er in seiner Heimat Bagdad aus politischen Gründen verhaftet. Er floh aus dem Irak. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie. 2008 erschien sein Debütroman „Der falsche Inder“ (Nautilus). Es folgten weitere Romane, zuletzt: „Ohrfeige“ (Hanser Verlag, 19,90 Euro). Abbas Khider lebt in Berlin.
chrismon: Herr Härtling, Sie kamen 1945 aus Mähren über Österreich nach Nürtingen am Neckar. Wann fühlten Sie sich wirklich angekommen?
Peter Härtling: Als ich mit zwölf Jahren dort angekommen bin, war ich überaus fremd. Und so ist es bis heute geblieben, auch wenn ich noch Beziehungen in die Stadt habe. Wir Flüchtlinge galten den Einheimischen als Knoblauchfresser, als Paprikafresser. So nannte man uns. Meine Mutter starb fünf Tage lang an Schlaftabletten, meine Schwester und ich saßen an ihrem Bett. Als sie tot war, kamen die Erwachsenen und verhandelten über uns. Das war ein Moment von unendlicher Fremde. Da kam ein Mann, der hatte einen Klumpfuß, schwer, groß, Martin Lörcher, der Pfarrer. Er sagte: „Das ist alles schlimm.“ Und nahm mich in die Arme. Das habe ich ihm nicht vergessen. Meine Schwester und ich waren elternlos und schutzlos. Unsere Großmutter, die ebenfalls geflohen war, nahm uns auf. Meine Mutter war krank geworden an der Sturheit und Enge der Schwaben. In der Schule war es oftmals schlimm, wir hatten alte Nazis als Lehrer. Man wurde ständig zurechtgewiesen. Ein Bauunternehmer hatte zwei große Schäferhunde, die waren abgerichtet auf den Ruf: „Fass, das ist ein Flüchtling.“ […]
Herr Khider, Sie sind zuerst nach Ansbach gekommen. Wann fühlten Sie sich wirklich angekommen?
Khider: Hundertprozentig kommt man nie an. Natürlich fühle ich mich zu Hause, wenn mein Kind mich anlächelt. Oder wenn ich mit Freunden in Berlin zusammensitze und wir lachen, reden und essen. Das ist ein Stück Heimat, ein Stück: angekommen. Aber es gibt Ereignisse, die alles wieder verändern. Die Anschläge in Paris, Brüssel und die Kölner Silvesternacht – und dann bin ich plötzlich verdächtig auf der Straße. Das Zugehörigkeitsgefühl geht irgendwie verloren. Dann kämpfe ich darum, dieses Gefühl wieder zu bekommen. Im Irak fühle ich mich mittlerweile noch weniger zu Hause als in Berlin. Ich bin angekommen, indem ich das tue, was ich tun soll und muss und will – schreiben. Fremdsein ist ein Projekt geworden, durch das ich produktiv werde. Damit das Exil nicht mich fesselt. Sondern ich fessele das Exil.
Herr Härtling, wir sitzen hier in Ihrem Haus bei Frankfurt am Main, Ihre Bücher sind Schullektüre. Wer kann mehr angekommen sein als Sie?
Härtling: In meiner Sprache bin ich zu Hause. Ich bin zu Hause in meiner Familie und bei Freunden. Aber die Fremde ist ein Stück meiner Geschichte. Als Zehnjähriger war ich ein kleiner Nazi. Mein Vater war es überhaupt nicht. Er litt sehr darunter, dass ich in Jungvolk-Uniform herumlief und Sprüche machte. Ich war ein Zwergenmacho. Auf unserer Flucht erlebten wir den Einmarsch der Roten Armee in der österreichischen Stadt Zwettl. Sie sollte verteidigt werden von kühnen, jungen Deutschen. Das fand ich prima, dachte aber nicht daran, was mit einer Stadt passiert, wenn sie verteidigt wird. Die Russen marschierten ein. Meine Mutter wurde vergewaltigt. Eines Tages saß ich im Hof zwischen Militärlastwagen, die sowjetischen Soldaten waren zum Teil 15, 16 Jahre alt, junge Männer, die mit mir spielten. Da rauschten zwei Zivilisten auf mich zu. Ich trug noch die Jungvolk-Uniform, weil ich nichts anderes hatte. Der eine packte mich: „Du kleiner Nazi, dich werden wir noch umerziehen.“ Ich guckte dem Mann ins Gesicht. Es war einer von den beiden Offizieren, die Zwettl unbedingt verteidigen wollten. Ich rannte hoch, warf mich auf meine Mutter und heulte vor Wut. Das war meine Erfahrung einer politischen Initiation. Diese schnelle Verwandlung von Menschen habe ich nicht vergessen. Das hat mich misstrauisch gemacht. Was wir heute hören, Pegida und Ähnliches, ist wie ein bitter-böses Echo aus jenen Tagen. Da bin ich wieder fremd. – Da bin ich wieder fremd. […]
Khider: Mir schlägt oft Angst entgegen. Das hat sicher mit dem 11. September zu tun. Ein anderer Grund ist, dass Menschen sich gegenseitig nicht als Menschen wahrnehmen. Dann gehen sie miteinander um, als seien sie minderwertig. Wenn man auf einer Ebene ist, kann man miteinander reden und auch Probleme lösen. Aber wenn sich jemand als etwas Besseres sieht, geht das nicht mehr. Das habe ich nicht nur in Deutschland erlebt. Ich komme aus einer schiitischen Familie und merkte, dass Schiiten in der arabischen Welt keinen guten Ruf haben. Ich erlebte viel Rassismus. Ich war der Schmutzige. Ich finde auch, dass Flüchtlinge manchmal in den Medien so dargestellt werden. Es erinnert mich an Völkerschauen in der Kolonialzeit. Eintritt frei! Aber ich frage mich: Wie fühlen sich Flüchtlinge, wenn sie so dargestellt werden?
Härtling: Man kann es als Fremdmachen bezeichnen. Die Regierung, die ständig über Integration redet, sollte lieber über Ausgrenzung reden. Es hätte mir als Kind geholfen, wenn man mich nicht als ein Niemand, der integriert werden muss, behandelt hätte – sondern als Mensch. Wie diese drei Männer, es war ein Glück, dass ich sie kennenlernte: meinen Deutschlehrer, mit dem ich Freund war, bis er starb. Dann den Maler Fritz Ruoff. Und den Pfarrer Martin Lörcher, der mich in den Arm nahm, als meine Mutter gestorben war.
Wir Deutschen müssten ja eigentlich geschult sein im Umgang mit Fremden, wegen unserer Geschichte!
Härtling: Aber staunen Sie nicht, was da gerade hochkommt? Sind wir ernsthaft geschult? Oder haben wir das vergessen? Das beschäftigt mich sehr.
Das Land ist voller Gedenkstätten, die vor Ausgrenzung warnen.
Härtling: Aber wir haben Brüller, die „Wir sind das Volk!“ kreischen. Die schreien: „Hängt sie auf.“ […]
Die AfD suggeriert, dass Menschen, die dem Islam angehören, nicht integrierbar seien. Was kann man gegen einen solchen Pauschalverdacht tun?
Härtling: Das Extreme an diesen Spannungen zwischen Hiesigen und Kommenden ist, dass der Islam als moderne Ideologie so extrem global wirkt, dass die Menschen in ihren kleinen Bezirken Angst kriegen. Der oft mörderische Anspruch macht große Angst. Jetzt passiert etwas Verrücktes: Die, die Schutz suchend kommen, gehören auch zum Islam. Da fragen sich wahrscheinlich recht dürftige Köpfe: Sollen wir da nicht misstrauisch sein? Was mich außerordentlich aufregt, ist, dass die Wortführer von AfD und auch der auf die Straße gehenden Schreier genau diese Spannung ideologisch ausnutzen.
Wissen Sie ein Mittel, wie man dieser Stimmung entgegentreten kann?
Khider: Es ist gerade sehr schwierig. Dabei hat sich die deutsche Gesellschaft doch schon verändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kaum anders aussehende Menschen. Jetzt haben wir die neuen Deutschen, Migranten, die in vielen Bereichen des Lebens – in Sport, Literatur, Kunst, Kultur – präsent sind. Ich war stolz darauf.
Härtling: Das ist auch ganz prima.
Khider: Deshalb ist das, was wir gerade an Hass und Ablehnung erleben, eine Niederlage. Aber ich habe ein Problem damit, wenn wir sagen, dass alle Pegida- oder AfD-Anhänger Rassisten sind. Es gibt Menschen, die Ängste haben, ausgelöst durch die Medien oder durch Unwissenheit. Sie sollten wir ansprechen. In der islamischen Welt sind die Muslime selbst überrascht über die ISIS-Gruppen, die Menschen grundlos ermorden. Es geht um Feindbilder, und mit Feindbildern kann man leider viel erreichen. Eine sehr extreme Zeit. Aber wenn wir die Ängste der Menschen ignorieren, machen wir einen großen Fehler.
Härtling: Dem würde ich nicht widersprechen. Aber ich habe da meine Bedenken. Die Ängste ignorieren, tun wir das? Das Tolle ist ja, dass die Ängstlichen die anderen ignorieren.
Khider: Es ist alles so extrem. Wir brauchen Ruhe. Jetzt können wir nicht viel erreichen.
Die AfD sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland und setzt sich für ein Verbot von Minaretten, von Muezzins und Vollverschleierung ein. Macht das die Zeit ruhiger?
Härtling: Und kaum jemand sagt etwas dagegen. Die fallen hinter das Grundgesetz zurück.
Khider: Die Deutschen sollten aufgrund ihrer Geschichte eigentlich gelernt haben, die Flüchtlinge als Menschen wahrzunehmen. Aber in vielen ostdeutschen Städten kann ich abends, wenn es dunkel wird, nicht spazieren gehen, weil ich Angst habe. Wie leben die Flüchtlinge, die sich dort heute befinden? Wir sind alle – auf irgendeine Weise – überfordert mit den vielen Flüchtlingen. Wir hätten schon viel früher über Waffenhandel, Unterstützung von Diktaturen reden müssen. Wir haben einen Anteil an der Geschichte. Allein im Irak gibt es drei Millionen Binnenflüchtlinge. Irgendwann flieht ein Volk. Über die afrikanischen Flüchtlinge redet man gar nicht mehr. Sind sie keine Menschen mehr?
Härtling: Sie sind Individuen, mit eigenen Wünschen und Gaben und Begabungen.
Khider: Wir beide sind Beispiele, wir sind auch Flüchtlinge gewesen. Die anderen sind wie wir. Es ist so einfach. […]
Moderation: Hedwig Gafga und Nils Husmann
Gekürzte Fassung. Das vollständige Interview in chrismon 8/2016, www.chrismon.de. In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Hedwig Gafga und Nils Husmann, www.chrismon.deIn: Pfarrbriefservice.de