"Wer bin ich?"

Christel Berger schildert ihre Erfahrungen während der nassen Phase ihres Mannes

Mein Name ist Christel Berger, 47 Jahre alt; ich bin verheiratet und habe 2 erwachsene Kinder. Ich bin Angehörige eines Alkoholikers und berichte über meine ganz persönlichen Erfahrungen während der nassen Phase meines Mannes.

Ich lernte meinen Mann mit 17 Jahren kennen, vor 28 Jahren heiratete ich ihn 19-jährig. Alkohol war kein Thema, natürlich ging man am Wochenende aus und trank, jeder empfand das als normal. Nach einiger Zeit machte ich mir Gedanken, warum mein Mann sein Junggesellendasein nun nicht so richtig aufgeben wollte, oft ging er nach der Arbeit in die Kneipe, bevor er nach Hause kam.

Ein Kind, seine Meisterschule, sich selbstständig machen - alle seine Wünsche und Träume erfüllte er sich. Ich trat als treu sorgende Ehefrau selbstverständlich in die 2. Reihe zurück, unterstützte erst durch meine Berufstätigkeit seine Pläne und gab dann schließlich meinen Beruf auf und half im Geschäft meines Mannes mit.

Ich dachte, das wäre alles richtig so, jetzt hatte er ja sein Ziel erreicht und er würde jetzt ein ordentlicher Familienvater und Geschäftsmann. Sein erhöhter Alkoholkonsum machte mir manchmal Sorge, aber wenn ich alles richtig machte, würde alles gut laufen, er hätte weniger Stress und alles würde gut. Dies versicherte er mir auch immer wieder, versprach mir den Himmel auf Erden, wenn das Geschäft erst einmal richtig läuft. Nach 10 Ehejahren war es dann so, dass ich oft morgens um 4 Uhr mit dem Lehrling in der Backstube stand, um 6 Uhr die Brötchentour fuhr, um 6.30 Uhr das Geschäft öffnete, bis 18 Uhr abends im Laden stand, zwischendurch Haushalt, Kinder, Wäsche, Papierkrieg.

Aber nicht die viele Arbeit war es, die mich belastete, sondern die Sorge, die Angst, die Wut, die Lügen, das Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Die Sorgen: Wie geht es weiter? Schaffen wir es, schaffe ich es? Passiert meinem Mann auch nichts, er ist doch wieder mit dem Auto unterwegs, größer war aber noch die Sorge, dass er vielleicht ein Kind überfährt.

Ich hatte Angst, Freunde, Bekannte, Verwandte könnten merken, dass mein Mann wieder einmal zu viel getrunken hatte. Ich fürchtete Streit meines Mannes mit Kunden, mit Freunden, Bekannten, Verwandten. Unsere heile Welt könnte Schaden nehmen. Auch ich fürchtete immer wieder Streit mit ihm, der gottlob nur immer verbal ablief. Später kam regelrechte Existenzangst hinzu.

Ich war wütend auf das Trinken, auf den Streit, auf die Vorwürfe. Später auf mich selbst, weil ich das alles mitmachte.

Die Lügen: Abstreiten des Trinkens, Verschweigen und Beschönigen von Problemen, die offensichtlich waren, die Ausreden. Dies waren aber nicht nur die Lügen meines Mannes, darin war ich mindestens genauso gut.

Mein Leben entwickelte sich zu einem einzigen Chaos, ich verlor mich und meine Ziele völlig aus den Augen. Ich funktionierte, irgendwie musste es ja weitergehen. Unser ganzer Tagesablauf richtete sich nach dem Befinden meines Mannes: Ging es ihm gut, ging es allen gut. Dadurch vernachlässigte ich auch meine Kinder, weshalb mich oft das schlechte Gewissen plagte. Mein Körper sendete mir Signale, die ich ignorierte, Magenschmerzen, Rückenschmerzen, Müdigkeit. Probleme in der Schwangerschaft, Fehlgeburten. Entrückte ich meiner Verantwortung manchmal für ein paar Stunden zum Kegeln oder zum Besuch bei Freunden, so konnte ich doch nie richtig abschalten. Gelang es mir doch einmal, stellte sich spätestens auf dem Nachhauseweg Unruhe ein; je näher ich kam, umso beklommener fühlte ich mich.

Meine Gefühle stumpften mit der Zeit völlig ab, ich konnte mich nicht freuen, ich konnte nicht weinen, ich konnte nicht mehr wütend sein. Die Gedanken Was mach ich falsch? Was kann ich besser machen? Koche ich wirklich so schlecht? kreisten unentwegt in meinem Kopf.

Es gab Momente, da wünschte ich meinem Mann, er würde verunglücken, dann wäre wenigstens mit dem Trinken Schluss. Mehr als einmal hatte ich das Telefon in der Hand und wollte meinen Mann wegen Trunkenheit am Steuer anzeigen.

Wenn diese Gedanken kamen, ging es mir ganz schlecht, ich schämte mich derer, ich glaubte, ich wäre ein durch und durch schlechter Mensch, wenn ich so denken könnte.

Es gab aber auch andere Seiten. Es gab Menschen, die mich lobten: “Die ganze Arbeit im Geschäft mit nur einer Aushilfe, den Haushalt, die Kinder, dass du das alles schaffst!“ Solche Aussagen bestätigten mich, ich brauchte sie. Ich fühlte mich für einen Moment anerkannt.

In gewisser Weise genoss ich es auch, dass ich alles managen konnte, ich hatte die Fäden in der Hand. Meine Umwelt nahm mich als eine starke Frau wahr, die nichts erschüttern konnte.

Wenn ich heute darüber nachdenke, wurde dies auch zu meiner Überlebensstrategie.

Ich übernahm immer mehr Verantwortung, für Alles, für Jeden, vieles konnte ich auch für Andere noch erledigen. Je mehr Arbeit ich hatte, umso weniger musste ich nachdenken und mein Leben evtl. in Frage stellen.

Während einer schwierigen Schwangerschaft mit vielen Krankenhausaufenthalten war es dann vorbei mit dem Verdrängen. Zwangsläufig hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Wo war die von der Umwelt als stark empfundene Frau geblieben. In Wirklichkeit fühlte ich mich klein und hilflos, mein Leben kam mir plötzlich total verpfuscht vor. Ich nahm mir vor etwas zu ändern, nicht nur mit Konsequenzen zu drohen, sondern sie auch umzusetzen.

10 Monate später gelang es mir dann, mit den Kindern auszuziehen. Dies war eine große Wende in meinem Leben. Ich wurde ehrlich zu mir selber und anderen gegenüber. Seitdem erfuhr ich Hilfe. Ich ging in meinen alten Beruf der Arzthelferin zurück und erlaubte mir, stolz auf mich zu sein, weil es mir recht gut gelang, Wiedereinstieg in den Beruf, Haushalt und Kinder unter einen Hut zu bekommen. Machte ich doch nicht alles falsch? Nun begann ich langsam, mich selber als starke Frau zu sehen.

Mein Mann machte eine Therapie und unser Machtkampf begann. Schnell merkte ich, dass nicht alles gut wurde, sobald nur die Flasche weg war. Es fiel mir schwer, Dinge zu akzeptieren, die auch ohne Alkohol noch existierten. Viele Dinge, die in der nassen Phase geschehen waren, konnte ich so schnell nicht vergessen, erst recht nicht verzeihen. Es fiel mir besonders schwer, nachdem ich alles gemanagt hatte und 9 Monate mit den Kindern allein gelebt hatte, Verantwortung wieder abzugeben.

Mit Hilfe der Gruppe und der Suchtberatungsstelle gelang es uns nach langem Tauziehen und vielen Auf´s und Ab´s, unser Leben in normale Bahnen zu lenken. Heute frage ich nicht mehr: „Wer bin ich?“, sondern sage: “Ich bin wer!“

Christel Berger engagiert sich ehrenamtlich im Kreuzbund.
Quelle: Ausgabe 5/2006 des WEGGEFÄHRTE, der bundesweiten Verbandszeitschrift des Kreuzbundes

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Das Schwerpunktthema für Februar 2010

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Text: Christel Berger
In: Pfarrbriefservice.de