Werke der Barmherzigkeit: Fremde beherbergen
Eine Beispielgeschichte
Wenn aber der Menschensohn kommen wird, so wird er sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann bist du uns als Fremder begegnet und wir haben dich aufgenommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Die Bibel, Matthäus, Kap. 25)
Heute weiß er keine Antwort mehr darauf, was das eigentlich ist: Heimat! Als Kind war es etwas ganz Selbstverständliches: Der Hof war Heimat, das Dorf war Heimat, die herrlichen Wiesen, die Wälder und Felder zu beiden Seiten der Wolga - das war seine Heimat. Dieses Bild ist verblasst, er kann sich kaum noch erinnern.
Er war ein kleiner Junge, als man die Familie aus der Heimat vertrieb und in Kasachstan ansiedelte. Diese fremde Welt sollte sein neues Zuhause sein, aber wirklich heimisch geworden ist er nie. Für die Ansässigen blieb er "der Deutsche", obwohl seine Familie doch schon seit Generationen die Steuern in Rubel zahlte. Er blieb der Deutsche, auch als er die Sprache der Kindheit längst vergessen hatte und nur der Klang ihm noch vertraut war. Die Worte waren ihm fast alle verloren gegangen.
Auch dort, auch in Kasachstan fand er Menschen, die er mochte, großzügige Menschen, warmherzige Menschen. Er fand sie unter den Kasachen wie unter den Russen, aber es blieb eine oberflächliche Verbundenheit. Dass er andere Wurzeln hatte, blieb ihm immer bewusst, und wenn es Augenblicke gab, in denen er sie fast vergessen hatte, dann wurde er von außen wieder daran erinnert.
Besonders während seiner Armeezeit hatte er es schwer. Da war er nur "der Deutsche". Sein deutscher Name lag wie ein Kreuz auf seinen Schultern, das ihn drückte und ihm Schmerzen bereitete. Ein wenig bestaunten sie ihn wegen seines fremden Namens, aber sie misstrauten ihm auch. Sie luden ihm manche Kriegsschuld der verhassten Wehrmacht auf, obwohl er während des Krieges doch noch ein Kind war und keinen einzigen Reichsdeutschen zu Gesicht bekommen hatte, so viele Kilometer hinter der Front.
Die Älteren ertrugen derlei Schmach besser, sie waren aufgewachsen mit dem Gefühl Deutsche zu sein, in eigenen Siedlungsgebieten. Er aber ist in russische Schulen gegangen, hat mit Kindern gespielt, die kein Wort deutsch sprachen. Er verstand gar nicht, wenn man ihn wie einen Fremden behandelte.
Anders als die Eltern und die älteren Geschwister hatte er sich gut eingelebt in Kasachstan. Er war zu jung, um Narben von der Vertreibung zurückbehalten zu haben. Und schließlich hat er dann auch noch eine Russin geheiratet, was die Familie ihm wohl nie so ganz verziehen hat. So war er denn auch der Letzte, der nach Deutschland kam. Er, die Frau und zwei Kinder kamen, als der Wind sich schon gründlich gedreht hatte.
Anfangs waren es die sowjetischen Behörden, die keinen gehen lassen wollten. Jetzt musste man den Deutschen nachweisen, dass man ein Recht hatte zu kommen. Bei ihm war das nicht schwierig. Alle Geschwister, Neffen und Nichten leben seit langem in der "alten Heimat", wie sie in der Familie gern sagen.
Er empfindet es anders. Er ist nicht in der "alten Heimat" angekommen. Er fühlt sich hier noch fremder als im fernen Asien. Nicht mal die Sprache kann er wirklich sprechen. Mit den paar Kinderworten im Gedächtnis hat er sich schon oft blamiert.
Nur mit dem Namen ist er Zuhause angekommen. Der erregt kein Aufsehen mehr. Doch selbst das macht Probleme - kaum jemand will begreifen, wie er mit einem so urdeutschen Namen so fremd sein kann in diesem Land.
Manchmal geht er dorthin, wo sich die Russen treffen in der Stadt, in bestimmte Restaurants. Manchmal geht er sogar in die orthodoxe Kirche, nur um wieder mal von seiner Muttersprache umgeben zu sein und in den vertrauten Klang einzutauchen.
Wenn ihn jemand fragt, ob er wieder zurück möchte nach Kasachstan, dann antwortet er: "Es ist mir gleich, denn in der Fremde sterben werde ich in jedem Fall!"
Jörg Machel
Quelle: www.emmaus.de – Homepage der Ev. Emmaus-Ölberg-Kirchengemeinde Berlin-Kreuzberg
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Text: Jörg MachelIn: Pfarrbriefservice.de