Werke der Barmherzigkeit: Gefangene besuchen
Eine Beispielgeschichte
Wenn aber der Menschensohn kommen wird, so wird er sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann warst du im Gefängnis und wir sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Die Bibel, Matthäus, Kap. 25)
Er war von Zweifeln geplagt, ob es gut war, dem Arzt am Ende doch noch die Zustimmung gegeben zu haben, mit der seine Frau in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Seine Frau sei gefährdet, so sagte der Doktor. Sie nimmt die Realität nur noch verzerrt wahr, und niemand weiß, wohin sie diese Ängste noch treiben können. Und es war ja tatsächlich unübersehbar, dass es ihr so schlecht ging wie nie vorher. Drei Nächte hatte sie nicht geschlafen, sie war voller Unruhe und kleinste Verunsicherungen ließen sie in einen Abgrund der Angst fallen.
Was lag näher, als dem Arzt zu vertrauen. An wen hätte er sich wenden sollen, wenn nicht an einen Facharzt in dieser für ihn unüberschaubaren Situation.
Zunächst wollten sie sich mit der Kranken verständigen. Aus eigenen Stücken sollte sie den Arzt in eine Klinik begleiten. Als der aber merkte, dass sie unfähig war, eine Entscheidung zu fällen und dann auch zu ihrem Entschluss zu stehen, riet er zu einer Zwangseinweisung.
Noch nie hatte sich der Ehemann so zerrissen gefühlt. Einen lieben Menschen in die Verantwortung eines anderen zu übergeben und dabei nicht zu wissen, was dies bedeutet, das war grauenhaft. Ein kleiner Lichtblick war die Aussicht, sie noch am gleichen Tag in der Klinik besuchen zu dürfen. Mit dieser Vereinbarung ließen sich die beiden trennen.
Der Mann suchte Rat bei einem Freund, und der bestärkte ihn, dass es richtig war, so zu entscheiden. "Deine Frau ist in einen Grenzbereich geraten, in dem man auf Fachleute vertrauen muss", sagte er. "Da kannst du mit Freundlichkeit und Fürsorge allein nichts mehr ausrichten."
Ein wenig gestärkt kam er in die Klinik. Die Eingangstür hatte keine Klinke. Auf den Klingelruf kam ein Pfleger und schloss die Tür auf. Die Frau stand im Flur. Dicht an die Wand gelehnt. Mit kraftlosen Schritten kam sie auf ihn zu. Ganz leise flüsterte sie: "Hier sterbe ich, hol mich hier heraus, hier sterbe ich!" Der Flur war lang und sehr hoch. Die Luft war kaum zu atmen. Alle schienen hier zu rauchen. Die Atmosphäre war angsteinflößend, das Personal beflissen, aber wenig vertrauenerweckend. Männer und Frauen aller Altersgruppen liefen auf und ab oder standen in kleinen Gruppen.
Eine bizarr geschminkte Person kam auf das Paar zu, fragte die Frau, ob er ihr Freund sei, und drückte ihr, ohne eine Antwort abzuwarten, ein Präservativ in die Hand. Sie flohen in ihr Zimmer. Vier Betten standen dort. Die Luft war etwas besser. In einem der Betten kauerte ein junges Mädchen und schottete sich zum Raum hin ab.
"Die hören mir nicht zu", sagt die Frau. "Die haben mir gleich eine Spritze gegeben, zur Beruhigung. Erst danach haben sie einen Test gemacht. Ich bin schwanger." Sie weint nur noch. Sie will raus, nur raus.
Er betrachtet die geschlossenen Fenster, die Türen, hört immer wieder das Klappern von Schlüsseln. Er sieht kranke Menschen und meint zu erkennen, dass viele mit starken Medikamenten ruhig gestellt sind. Er sieht sich die jungen Männer an, eine wild auf und ab laufende Frau. Gegenüber diesen Menschen wirkt seine Frau so hilflos. Wer wird sie beschützen? Was, wenn ihr jemand etwas antun will? Er kann sie hier doch nicht allein lassen, denkt er. Und er versucht, die Einweisung rückgängig zu machen.
Dazu hat er nicht "ja" gesagt, dazu nicht. Doch nun ist es zu spät. Andere Ärzte haben die Verantwortung übernommen, und die stellen keine Frage mehr. Die sind sich der Entscheidung sicher.
Im Gespräch mit dem Oberarzt muss er feststellen, dass er ihn nicht zu erreichen vermag. Überspannte Angehörige gibt es hier des Öfteren, diese Einschätzung signalisiert sein Gegenüber mit jedem Augenaufschlag. Er wird mit ein paar juristischen Auskünften abgespeist und soll nun bitte gehen. "Bei uns ist die Patientin sicher, hier kann ihr nichts passieren", sagt der Arzt und blickt deutlich genervt durch die verschlossenen Fenster ins Freie.
Jörg Machel
Quelle: www.emmaus.de – Homepage der Ev. Emmaus-Ölberg-Kirchengemeinde Berlin-Kreuzberg
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Text: Jörg MachelIn: Pfarrbriefservice.de