Werke der Barmherzigkeit: Kranke pflegen

Eine Beispielgeschichte

Wenn aber der Menschensohn kommen wird, so wird er sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann bist du krank gewesen und wir haben dich besucht? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Die Bibel, Matthäus, Kap. 25)

Das Pflegeheim war sauber und ordentlich, es standen Blumen in den Zimmern und auf den Fluren große Kübel mit Grünpflanzen, und wenn Leute kamen, um sich nach einem Platz für ihre Angehörigen zu erkundigen, gewannen sie meist einen guten Eindruck vom Haus.

Auch Karin ging es so, als sie das Haus zum ersten Mal betrat und von der Heimleitung die obligatorische Führung bekam. Die äußeren Dinge schienen gut geordnet, die Atmosphäre aber gefiel Karin nicht. Das Personal war merkwürdig beflissen, die Alten ungewöhnlich zurückhaltend. Das Haus verbreitete einen seltsam leblosen Eindruck.

Doch gerade dies schien irgendwie zu Karins Mutter zu passen, und für die sollte der Platz schließlich sein. Sauber, ordentlich und immer auf das Äußere bedacht, so war Karins Mutter auch, und dies war wohl der Grund, warum sie schon lange keinen engen Kontakt mehr zueinander hatten.

Karins Leben war der Mutter zu chaotisch. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass Karin anderen Werten folgte, als sie es tat. Immer gab es Streit, wenn die beiden aufeinander trafen.

Jetzt aber, wo die Mutter schwach und hilflos wurde, konnte man sich nicht mehr aus dem Wege gehen. Karins Hilfe war gefragt und sie tat, was sie tun konnte.

Als die Mutter bereits ein halbes Jahr in dem Heim wohnte, nahm sich Karin eine Woche frei, um sie zum ersten Mal für länger zu besuchen. Sie reservierte sich das Gästezimmer, das bei der Führung so stolz präsentiert worden war. Doch sie bekam sofort zu spüren, dass ein so langer Besuch gar nicht erwünscht war. Für eine Nacht am Wochenende sei das Zimmer eigentlich gedacht, nicht für so lange. Das sei nicht gut für den Betrieb, wenn Angehörige so lange bleiben. Der Ton am Telefon wurde merklich kühler. Doch Karin setzte sich durch und erlebte den Pflegeheimbetrieb nun in seiner ganzen Härte.

Wie in einer Kaserne schien alles organisiert zu sein. Der reibungslose Betrieb war oberstes Ziel aller Planungen, und das Personal litt mit den Einwohnern gleichermaßen. Manche von den Angestellten allerdings gaben ihren Frust an die Schützlinge weiter und malträtierten sie, wenn die sich störrisch stellten. Die schlimmsten Tage ihres Lebens waren das, erinnert sich Karin, wenn sie zurückdenkt.

Nach nur drei Tagen stand für sie fest, dass ihre Mutter da nicht bleiben soll. Sie nahm sie einfach mit. Von Süddeutschland bis nach Berlin. Eine Odyssee für die geschwächte Frau, doch sie dazulassen, wäre schlimmer.

Trotz langfristiger Verträge und gegen mancherlei Widerstände floh sie mit ihr aus diesem Haus, brachte sie mit Überredungskunst und behelfsmäßig ausgestellten Papieren über die damals noch geschlossene innerdeutsche Grenze und pflegte sie in ihrer viel zu kleinen Wohnung bis zu ihrem Tode.

Diese wenigen Monate waren so intensiv wie keine Zeit vorher und keine Zeit danach. Was kam da nicht alles hoch an Verletzungen aus Kindertagen, aber auch an Gefühlen verwegener Kumpanei, wenn sie über die gemeinsam durchgestandene Flucht sprachen. Sie sprachen über den vor Jahren verstorbenen Vater und über manches Thema, das sie vorher strikt gemieden hatten.

Erstmals gab es Augenblicke, in denen die Mutter wohlwollend auf Karin und ihr jetziges Leben blickte. Nun erst schien sie zu begreifen, dass Karins Leben nicht vertan war, sondern auf Überzeugungen ruhte, die ihr nun zugute kamen. Es erinnerte an ein Wunder, wie eine verbitterte Frau dank selbstloser Hilfe zu neuem Leben erwachte.

Und der wunderbare Nebeneffekt dieser Anstrengung lag darin, dass sich Mutter und Tochter auf der allerletzten Wegstrecke nahe gekommen sind, nahe wie nie vorher!

Jörg Machel
Quelle: www.emmaus.de – Homepage der Ev. Emmaus-Ölberg-Kirchengemeinde Berlin-Kreuzberg

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Das Schwerpunktthema für Juni 2011

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Text: Jörg Machel
In: Pfarrbriefservice.de