Werke der Barmherzigkeit: Nackte kleiden
Eine Beispielgeschichte
Wenn aber der Menschensohn kommen wird, so wird er sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich nackt gesehen und haben dich gekleidet? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Die Bibel, Matthäus, Kap. 25)
Menschen geben gebrauchte Kleidung in der Gemeinde ab, gut erhaltene Sachen, auf die sie verzichten können. Andere, die bedürftig sind, holen sie sich.
Und es hat Kalle immer geärgert, wenn sich die Leute wie die Motten in die Kleiderkammer drängten und über alles hermachten, was stattlich aussah, ohne auf Größe und Verwendungszweck zu achten. "Die verscheuern es auf dem nächsten Markt", schimpfte er dann. "Für die, die es wirklich brauchen, ist ganz schnell nichts mehr da."
Das war das Ende der freien Verteilung in unserer Kleiderkammer. Es hat einfach nicht funktioniert. Nach der Methode bekamen die Schnellsten und die Unverschämtesten immer die besten Stücke, und die anderen hatten das Nachsehen.
Jetzt steht ein Tresen vor der Kleiderkammer. Und die Leute werden gefragt, was sie brauchen, und wenn die Aufzählung gar zu umfangreich wird, dann bremst Kalle. "Was ist das Wichtigste? Zwei, drei Sachen - mehr nicht!" Dann gibt es immer wieder Protest: "Die Sachen gehören doch nicht dir, die sind für uns hier abgegeben worden. Spiel dich bloß nicht so auf..."
Es geht laut zu an manchen Tagen. Zu kämpfen und zu pöbeln hat man gelernt beim Leben auf der Straße. Doch mit Gelassenheit und notfalls mit fünfmaliger Erklärung beruhigt Kalle die Leute, und irgendwann kommen dann doch noch ein paar Wünsche: "Socken, Unterhosen und eine Regenjacke." Kalle lächelt freundlich: "Sollst du haben!"
Mit fachmännischem Blick schätzt er die Größe ab und verschwindet zwischen den Regalen. Die Socken und die Unterhosen finden nicht viel Würdigung, aber von der Regenjacke ist sein Gegenüber ganz begeistert. Er probiert sie an, posiert vor dem Spiegel und nimmt eine würdige Stellung ein. Er streicht mit den Händen durch die Haare und betrachtet sich aufmerksam.
Sein Gesicht verfinstert sich leicht: "Wer so eine Jacke weggibt, muss doch bescheuert sein", vermerkt er abschätzig. "Die ist selbst beim Trödler noch ´nen Hunderter wert.“ Er bemerkt, wie missmutig Kalle die Stirn in Falten legt, und er grinst: "Kene Angst - die is für mich grad gut genug." Mit dem Personal und der Welt versöhnt, verlässt er die Kleiderkammer in Richtung Wärmestube, und man hört unten im Keller, wie oben alles grölt, weil er so schick daherkommt. Jetzt grinst auch Kalle, er kennt den ganzen Zirkus schließlich auch von der anderen Seite des Tresens!
Kalle kam nicht als Sozialarbeiter hierher, sondern auf der Suche nach festem Schuhwerk. Seine Stiefel hatte ihm jemand geklaut, als er im Vollrausch auf der Parkbank lag, und Geld für neue war nach dieser Sauftour keins mehr da.
Zufällig kam an diesem Tag gerade jemand mit zehn Kisten von einer Haushaltsauflösung, alles gut sortierte Sachen von einem älteren Mann - vieles davon kaum getragen. Und Kalle packte mit an und half den ganzen Krempel einzuräumen.
Seitdem kommt er regelmäßig her und hilft ein wenig mit. Manchmal schmeißt er den Laden sogar allein, und es macht Spaß dann zuzusehen, wie er sein Wissen einbringt. Wie ein Profi besieht er sich die Kundschaft und erkennt sofort, was Sache ist. Behauptet jemand gar zu forsch, er bräuchte Sachen für sich und die Kinder und möchte sich in Wahrheit nur für den Flohmarkt rüsten, dann hat Kalle einen Riecher dafür, und dann ist er besonders knauserig. Kommt aber jemand eher schüchtern daher und verlegen, dann muntert Kalle ihn auf. "Arm sein ist keine Schande", sagt er dann. "Jeder liegt mal auf der Nase. Aufstehen musste, das ist alles."
Er findet schon den richtigen Ton, und man sieht es den Leuten an, wenn sie sich verstanden fühlen. Man spürt, dass sie es zu schätzen wissen, wenn da einer ist, der was versteht von ihrem Leben.
Jörg Machel
Quelle: www.emmaus.de – Homepage der Ev. Emmaus-Ölberg-Kirchengemeinde Berlin-Kreuzberg
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Text: Jörg MachelIn: Pfarrbriefservice.de