Werke der Barmherzigkeit: Tote bestatten
Eine Beispielgeschichte
Die Anmeldung der Bestattung lief wie immer über die Küsterei, und ich finde in meinem Fach einen Zettel mit dem Beerdigungstermin und mit den Daten eines Menschen: Jahrgang 1907, Beruf Dreher, jetzt Rentner, verwitwet, in der Wohnung verstorben, keine Angehörigen bekannt. Mehr weiß auch der Bestatter nicht zu berichten. Im Haus kennt den alten Herrn auch niemand, da er der letzte alte Mieter ist, alle anderen Wohnungen sind modernisiert und erst in den letzten Monaten neubezogen.
Ich hoffe darauf, dass zur Beerdigung doch noch irgendein Freund, ein alter Nachbar, ein amtlicher Betreuer kommt, irgendjemand, der ihm nahe gestanden hat. Doch wir bleiben allein. Der Bestatter, der Organist, die Sargträger und ich. Ein Sänger kommt in letzter Minute, um das "Ave Maria" und "So nimm nun meine Hände" zu singen. Das war so bestellt und bezahlt worden, schon vor Jahren. Auch im Beerdigungsinstitut kann sich niemand an den alten Herrn erinnern. Als die Verträge geschlossen wurden, war der Betrieb noch in anderer Hand.
Etwas hilflos warten wir noch ein paar Minuten. Am Friedhofseingang ist ein Ehepaar zu sehen, das auf die Feierhalle zustrebt. Doch unsere Hoffnung wird enttäuscht. Die Trauergäste waren etwas früh dran und wollten erst zur nächsten Feier.
Es ist nicht selten, dass Menschen ganz ohne Angehörige und Freunde zu Grabe getragen werden. Meist sind es dann anonyme Bestattungen, und der Urnenträger begleitet mich allein zur letzten Ruhestätte des Verstorbenen.
Der Rahmen dieser Trauerfeier ist außergewöhnlich. Alles ist für eine festliche Trauerfeier arrangiert. Der Sarg ist mit einem großen Blumengebinde geschmückt, der Bestatter ist zugegen, sechs Träger, der Organist und ein Sänger, und niemand ist da, der sich in Trauer dieses Menschen erinnern möchte.
Mir kommen Gespräche mit hoch betagten Menschen in den Sinn, die darüber klagten, dass sie die letzten Überlebenden ihrer Generation sind. Alle Schulkameraden sind schon tot, der Ehepartner, selbst Nichten und Neffen leben nicht mehr. Sie können lange von Vergangenem erzählen, aber es hat den Anschein, als wäre die Gegenwart eine Nichtzeit, eine Zeit ohne Gestern und Morgen.
Ohne dass wir recht wissen warum, wandelt sich die Stimmung in unserer Runde. Wir haben aufgehört zu warten. Jeder spürt, dass hier etwas passiert, das ganz unmittelbar mit ihm zu tun hat. Ohne darüber zu sprechen, beginnen wir, unser eigenes Ende zu bedenken. Werden wir auch so zu Grabe getragen werden? Wird die Zeit auch über unser Leben so hinweggehen, dass am Ende niemand mehr da ist, der sich unser erinnern will?
Ich unterbreche die nachdenkliche Stille und bitte alle in die Trauerhalle. Selbst das Ehepaar, das verfrüht eingetroffen ist, begleitet uns. Ich lese aus den Seligpreisungen und aus einem alten Psalm von der Vergänglichkeit des Lebens und rede davon, dass wir bei Gott einen Namen haben, der auch dann noch Bestand hat, wenn ihn die Menschen längst vergessen haben.
Zu den gewünschten Liedern fügt der Sänger noch eine Strophe aus dem Choral "Wachet auf ruft uns die Stimme" hinzu. Und der Bestatter, der für gewöhnlich spätestens mit dem Ende der Trauerfeier den Friedhof verlässt, begleitet uns noch bis zum Grab. Die Träger laufen nicht wie üblich nach dem Absenken des Sarges zurück in die warme Halle, sondern stellen sich am Rande der Grube auf und formieren sich zu einer spontanen Trauergemeinde. Sie werfen Erde in die Gruft, und ich sehe, wie einige ihre Lippen leicht bewegen und sich in irgendeiner Weise dem unbekannten Toten zuwenden.
Ohne dass wir es geplant hatten, ohne dass wir darüber gesprochen haben, wurde aus der vorbestellten Trauerfeier ein Gottesdienst, bei dem wir dem Verstorbenen und uns selbst sehr nahe kamen.
Jörg Machel
Quelle: www.emmaus.de – Homepage der Ev. Emmaus-Ölberg-Kirchengemeinde Berlin-Kreuzberg
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Text: Jörg MachelIn: Pfarrbriefservice.de