Wie in Gemeinden Soziale Gerechtigkeit gelebt werden kann
Ein Interview mit Prof. Dr. Michelle Becka
Prof. Dr. Michelle Becka ist Professorin für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Ein Gespräch mit ihr über alltägliche Soziale Gerechtigkeit, neue Formen der Gemeinschaftsbildung und darüber, wie wichtig Erfahrungsräume in Gemeinden sind, um Beziehungshaftigkeit zu erleben.
Soziale Gerechtigkeit – darum kümmern sich Politik, spezielle Institutionen, soziale Vereine. Können sich auch Pfarreien für Soziale Gerechtigkeit einsetzen?
Prof. Dr. Becka: „Es gibt bereits viele Initiativen in verschiedenen Gemeinden. Von der Kleiderkammer, über Sammelaktionen an St. Martin, über das Sternsingen.“
Das heißt, es gibt keinen Handlungsbedarf?
„Manche Initiativen sind gut in die Gemeinde integriert, aber andere laufen separat. Es gibt zum Beispiel den Caritasausschuss und der kümmert sich um seinen Bereich. Wünschenswert wäre, dass das nicht ausgelagert wird, sondern dass es als Teil des Selbstverständnisses betrachtet wird.“
Die Menschen sollten die Sorge um Soziale Gerechtigkeit nicht auf Ausschüsse abschieben. Es sollte normal werden, dass sich alle Gemeindemitglieder in ihrem Alltag, in ihrem Leben dafür einsetzen.
„In der Gemeinde sollte erfahrbar werden, was Papst Franziskus immer sagt: „An die Ränder gehen“.“
Aber, wie gelingt das?
„Gemeinden können überlegen, wie sie niederschwellige Angebot finden, zu denen auch Leute kommen, die sonst nicht in die Kirche gehen. Ein Spielenachmittag oder bei Kälte eine Teestube. Angebote, bei denen die Gemeinde gezielt die anspricht, die sie sonst eher als „Adressaten und Adressatinnen von Hilfeleistungen“ versteht. Wie machen wir sie zu Subjekten? Ich fände es wichtig, dass Gemeinden ihre Hilfe nicht an Leute adressieren, die sie in der Gemeinde eigentlich nicht sehen will, sondern, dass sie das zusammenführt. Das wäre ein Stück soziale Gerechtigkeit.“
Schwierig in einer Gesellschaft, in der das soziale Miteinander aktuell immer stärker auseinanderzuklaffen scheint. In der Menschen rauer und roher miteinander umgehen. Kein Interesse am Nächsten haben. Wie sollen sie Interesse an Sozialer Gerechtigkeit haben und sich dafür einsetzen?
„Man hört das sehr oft, dass alle in der Gesellschaft vereinzelt sind. Ich bin mir nicht ganz sicher. Das mag sein. Natürlich ist die Individualisierung im 21. Jahrhundert stärker, als in früheren Jahrhunderten. Ich weiß nicht, ob man das den Menschen zum Vorwurf machen kann. Es ist wie es ist, aber …“
… aber?
„Der Mensch ist ein soziales Wesen. Es gibt eine Sehnsucht nach Bindungen. Wir stehen zueinander in Beziehung. Das gilt für alle Menschen. Wir sind auf andere angewiesen. Wir sind auf andere verwiesen. Immer schon. In unserem ganzen Leben. Auch, wenn wir heute die Autonomie mit gutem Grund sehr stark machen, bedeutet das nicht, dass diese Beziehungshaftigkeit und dieses Verwiesensein auf andere weggefallen ist. Studien haben herausgefunden, dass es noch Formen von Gemeinschaftsbildung gibt. Die sind aber anders. Die sind kurzfristiger. Menschen binden sich nicht langfristig.“
Kirchengemeinden müssten sich auf diese neuen Formen einstellen, um überhaupt einen Raum zu schaffen, in dem Menschen Soziale Gerechtigkeit leben können?
„Ja, aber, wenn Kirchengemeinden durch Umstrukturierungsprozesse immer weniger Erfahrungsräume bieten, wo Menschen Beziehungen oder Beziehungshaftigkeit praktizieren können, fehlt etwas. Da fehlen Lernräume und Erfahrungsräume.“
Was würden Sie Kirchengemeinden raten?
„Ich fände es wichtig Räume zu bieten. Die Frage ist: Wo kann Kirche und Kirchengemeinden dem ganzen Raum geben? Wie können sie das, was da ist kultivieren? Wir bräuchten neue oder andere Modelle, um das stärker zu fördern.“
Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de
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Text: Ronja GojIn: Pfarrbriefservice.de